Zu seinem 98. Geburtstag habe ich meinem Onkel Rudi das Buch Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand geschenkt. Zwei Jahre später hat mich Rudi – Jahrgang 1914 – zu seinem 100. Geburtstag nach Israel eingeladen. Doch als ich schon im Flugzeug saß, fragte ich mich: Würde uns Rudi (wie der Romanheld) mit der Marzipantorte allein lassen? Oder würde er die Party wegen der »Lage« absagen?
Am 16. Juli landete ich um vier Uhr morgens in Ben Gurion. Um sechs legte ich in Herzliya meinen Kopf aufs Hotelkissen, um vor der Party noch ein bisschen zu schlafen. Um neun hörte ich Sirenen. Ich stolperte ans Fenster, sah vom zehnten Stock aus live, wie »Iron Dome« am Himmel eine Rakete abschoss. Unten im Schwimmbecken zogen Hotelgäste weiter ihre Bahnen. »Findet die Party statt?« fragte ich. »Klar«, sagte meine Mutter, »glaubst du, Rudi lässt sich das entgehen?« Ich stand auf und zog mein schönstes Kleid an. Dann fuhren wir nach Nordiya.
Rolling Stones Nordiya ist ein Moschaw bei Netanya. Dort gibt es ein gediegenes Altersheim, das beim Schawuot-Konzert der Rolling Stones in die Schlagzeilen geriet. Rudi (damals noch 99) bekam von der Leitung der Einrichtung eine Karte geschenkt. Bei 44 Grad im Schatten ging er zum Konzert und gab danach Radiointerviews. Ganz Nordiya war stolz auf ihn.
Als wir eintrafen, standen um die 100 Gäste schon um das Schwimmbad herum. Rudi trug ein T-Shirt mit der Aufschrift »Rudi 100«, schüttelte Hände und machte mit seiner Trommelgruppe Musik. Alles, was es zum Thema »Raketen« zu sagen gibt, hat er mir schon vor acht Jahren erzählt. Die Party zu seinem 92. Geburtstag musste ausfallen, weil die Hisbollah Haifa attackierte und seine Kinder im Bunker saßen. O-Ton Rudi von 2006: »An meinem ersten Tag als Einwanderer in Palästina sind wir von arabischen Kämpfern beschossen worden, als wir im Bus nach Jerusalem fuhren. Für mich ist das alles nichts Neues.«
Ich fragte nicht nach der »Lage«. Ich diskutierte nicht mit ihm darüber, warum es so weit kommen konnte. Ich holte mir Schokomuffins vom Buffet. Dann sahen wir einen Film, der extra zu Rudis 100. Geburtstag gedreht worden war.
Stundenhotel Als er vier Jahre alt war, hat mein Onkel Kaiser Wilhelm auf seinem Pferd gesehen. Er konnte Berlin 1938 mit einem britischen Zertifikat verlassen. Er hat 1947 eine Pension in Haifa gekauft, die in Wirklichkeit ein Stundenhotel war, und es erst bemerkt, als der Vertrag schon unterschrieben war, sagt Rudi. Seinen kleinen Bruder hat er in Auschwitz verloren. Es ist nicht selbstverständlich, dass mein Onkel 100 Jahre alt geworden ist.
Natürlich ist er nicht aus dem Fenster geklettert. Er hat uns alle begrüßt und verabschiedet – jeden Einzelnen. Und als ich ihn nach der Party anrief, um mich zu bedanken, sagte er: »Es ist noch nicht vorbei. Wir machen weiter.« Ich freue mich jetzt schon auf seinen 101. Geburtstag!