Gerade eben habe ich die wichtigste E-Mail des Tages bekommen. Ich bekomme ständig wichtige Mails, aber keine schlägt so tief in mein Bewusstsein ein wie die tägliche Botschaft von Elisha Goldstein, die ich auf Empfehlung eines amerikanischen Freundes seit einer Woche abonniert habe. »Hi Ayala, Your Daily Now Moment!«, schreibt mir der kalifornische Experte für »Mindfulness-Psychologie«. »Alle Blumen von morgen schlummern in den Samen des Heute!« Im Hier und Jetzt soll ich mir die Zeit nehmen, empfiehlt Goldstein, das Zitat noch einmal ganz langsam zu lesen und meinem Geist zu gestatten, die Worte in mich aufzunehmen, als läse ich sie zum ersten Mal.
Nichts tue ich lieber, als den Rat des Geistexperten zu befolgen – und alles um mich herum im Sinne des Erfinders des »Now Effect« wenigstens für einen kleinen Moment zu vergessen. Schließlich müsste ich noch 27 andere wichtige E-Mails beantworten. In vier Stunden ist Redaktionsschluss. Außerdem stimmt mich der Lauf der Welt ungewöhnlich trübsinnig – warum, brauche ich hier wohl kaum zu erwähnen. Und dann hat auch noch der selbst ernannte Kalif Ibrahim Awwad Ibrahim Ali Mohammed al-Badri al-Qurashi al-Sammarai, besser bekannt als Abu Bakr al-Baghdadi, den Ungläubigen in einem martialischen Video den Krieg erklärt. Was soll bloß aus uns Juden werden, wenn das Kalifat die Weltherrschaft übernimmt?
verhaltensmuster Elisha Goldstein scheint solche Sorgen nicht zu kennen. »Hi Ayala«, hat mir der Kalifornier am Freitag geschrieben, als das Video des Kalifen bekannt wurde, »praktiziere Freiheit! Reflektiere über bestimmte Verhaltensmuster, die dir nicht guttun. Mach dir klar, wie sie sich in deinem Körper anfühlen. Atme ein, atme aus und sage dir selbst: Ich lasse das Gefühl los.« Mit »bestimmten Verhaltensmustern« kann nur Nachrichtenhören und Kalifenvideoschauen gemeint sein. Doch sollte ich diese Angewohnheiten abstellen, müsste ich den Beruf wechseln.
Aber vielleicht sollte ich genauer hinsehen – dann könnte sich herausstellen, dass der Kalif weniger gefährlich ist, als es scheint. Zwar wirken sein Turban und sein schwarzes Outfit furchterregend – doch seit Tagen rätselt die Welt vor allem über al-Baghdadis Armbanduhr. Der »Telegraph« mutmaßt, es handele sich um eine Rolex (wohl eine silberne), eine Sekonda oder Omega Seamaster (Wert: 4400 Euro).
Manche erachten es eines Kalifen indes als unwürdig, keine goldene Rolex zu tragen. Ein arabischer User kommentierte auf Twitter: »Die Marke, die dir die Hand abhackt, wenn du Widerworte gibst«. Ein anderer schrieb im Netz: »Anscheinend findet er es wichtig, die Uhrzeit zu kennen, weiß aber nicht, in welchem Jahrhundert er lebt«. Anders formuliert: Der Kalif hat noch nie vom »Now Effect« gehört. So wird das bestimmt nichts mit der Weltherrschaft der Gläubigen.