Finale

Der Rest der Welt

Sir, kann ich mehr bekommen?» Zitternd und bebend steht Oliver Twist mit seiner Breischale vor dem fiesen Waisenhaus-Chef Mr. Bumble – Sie kennen den Film. Ungefähr so gestaltet sich auch mein jährliches Auftreten, versteckt hinter einem Schlachmones-Körbchen, vor der Tür von Herrn Weidenfeld, dem Vorsitzenden der jüdischen Schule, den ich wieder mal um einen Schulgeld-Nachlass anschnorren muss.

Die Zellophandeko samt Schleifchen erbebt, als Herr Weidenfeld die Tür öffnet. Er würdigt mich eines kurzen, abschätzenden Blickes und verschwindet wieder in der Wohnung. Kurze Zeit später taucht die Haushaltshilfe in gestärktem weißen Schürzchen auf, entreißt mir mein Körbchen und knallt mir die Tür vor der Nase zu. Wie demütigend.

Diaspora Aber was soll’s: Hinter mir wartet noch eine ganze Schlange von Eltern mit riesigen Schlachmones-Körbchen, die sich alle bei Herrn Weidenfeld lieb Kind machen wollen. Und so hat sich das Purimfest in den vergangenen Jahren zunehmend zu einem Schleim-Festival in großem Stil entwickelt. Nicht gerade mein Lieblingsfest, wie Sie sicher bereits bemerkt haben, weil ich zu Purim stets in der Diaspora schmachten muss, während meine Mutter 500 Kilometer entfernt von mir duftende Hamantaschen backt.

Seufzend schlendere ich nach Hause, aber nicht ohne die Nase unterwegs an den Schaufenstern der koscheren Geschäfte platt zu drücken. Prächtige Schlachmones-Darbietungen sieht man da: glitzernde Kristall-Karaffen mit edlen Weinen, Porzellanschalen mit feinsten Godiva-Pralinen, mit Samt und Seide ausgeschlagene Mahagoni-Kisten mit Wissotzky-Tee. Anscheinend müssen auch die Reichen und Schönen dieser Stadt sich bei irgendwem einschleimen, was ich irgendwie beruhigend finde. Ach, einmal, nur einmal so ein edles Körbchen empfangen! Seufzend schleppe ich mich zu Feinkost Katz, um weitere Schlachmones-Körbchen zusammenzustellen.

Ganz hinten ist ein Wühltisch mit allem Nötigen, daneben Körbchen, Schleifen, Zellophanpapier. Umringt von schwitzenden Matronen mit Scheitel und Tichel versuche ich, meine Körbchen voll zu bekommen, wobei der sportliche Reiz darin liegt, die Körbe auf möglichst billige Weise möglichst voll erscheinen zu lassen. Ich greife wahllos nach Pralinen mit weißer Patina vom Vorjahr, glibberigen Gelee-Bonbons, die Zunge, Finger und Kleidung dauerhaft blau und grün färben, und Keksen, die beim Antippen zu Staub zerfallen.

Gucci Wo treibt sich eigentlich mein Mann rum, der ist auch nie da, wenn man ihn braucht, um die zentnerschweren Waren nach Hause zu schleppen! Als ich mit meiner Beute vor der Haustür stehe, befindet sich dort bereits ein großes, glitzerndes Objekt, es ist fast zwei Meter hoch, es knistert einladend, es ist in glitzernde transparente Folie verpackt, mit Samtschleifen versehen. Innen drin ist irgendetwas Rosafarbenes, Flauschiges.

Der tolle rosafarbene Gucci-Pelzmantel aus meinen Träumen vielleicht? Da zerbirst die Verpackung, und ein 1,90 Meter großer flauschiger rosa Hase entsteigt ihr, er beginnt auf meiner Türmatte zu steppen und Purimlieder zu trällern. «Happy Purim» grinst der Hase und öffnet dann den Reißverschluss seine Kostüms. «Mann, war das heiß hier drinnen», stöhnt mein Mann und überreicht mir eine Fünf-Kilo-Packung parve Pralinen und ein etwas zerquetschtes Rosenbukett. Vielleicht ist Purim ja doch mein Lieblingsfest.

Literatur

Die Heimatsuchende

Vor 50 Jahren starb Mascha Kaléko. Ihre Dichtung bleibt erschreckend aktuell

von Nicole Dreyfus  15.01.2025

TV-Tipp

Furchtlose Kunstliebhaber in der NS-Zeit

Während des Nationalsozialismus sollten »entartete« Kunstwerke beseitigt werden, aber einige Mutige setzten zur Rettung der Werke ihr Leben aufs Spiel. Eine 3sat-Dokumentation zeichnet einige Fälle nach

von Wolfgang Wittenburg  15.01.2025

Konzerte

Yasmin Levy in München und Zürich

Die israelisch-türkische Künstlerin aus einer sephardischen Familie singt auf Ladino, bzw. Judäo-Spanisch, einer fast vergessenen Sprache

von Imanuel Marcus  15.01.2025

Malerei

First Ladys der Abstraktion

Das Museum Reinhard Ernst in Wiesbaden zeigt farbenfrohe Bilder jüdischer Künstlerinnen

von Dorothee Baer-Bogenschütz  14.01.2025

Leipzig

»War is over« im Capa-Haus

Das Capa-Haus war nach jahrzehntelangem Verfall durch eine bürgerschaftliche Initiative wiederentdeckt und saniert worden

 14.01.2025

Debatte

»Zur freien Rede gehört auch, die Argumente zu hören, die man für falsch hält«

In einem Meinungsstück in der »Welt« machte Elon Musk Wahlwerbung für die AfD. Jetzt meldet sich der Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner zu Wort

von Anna Ringle  13.01.2025

Krefeld

Gütliche Einigung über Campendonk-Gemälde

An der Einigung waren den Angaben nach die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth (Grüne), das Land NRW und die Kulturstiftung der Länder beteiligt

 13.01.2025

TV

Handgefertigte Erinnerung: Arte widmet Stolpersteinen eine Doku

Mehr als 100.000 Stolpersteine erinnern in 30 Ländern Europas an das Schicksal verfolgter Menschen im Zweiten Weltkrieg. Mit Entstehung und Zukunft des Kunstprojektes sowie dessen Hürden befasst sich ein Dokumentarfilm

von Wolfgang Wittenburg  13.01.2025

Mascha Kaléko

Großstadtdichterin mit sprühendem Witz

In den 20er-Jahren war Mascha Kaléko ein Star in Berlin. Die Nazis trieben sie ins Exil. Rund um ihren 50. Todestag erleben die Werke der jüdischen Dichterin eine Renaissance

von Christoph Arens  13.01.2025