Literatur

Der Reiz des Verbrechens

Kommissarin Sara Stein (Katharina Lorenz) und Inspektor Jakoov Blok (Samuel Finzi) ermitteln in der ARD-Reihe »Der Tel-Aviv-Krimi«. Foto: dpa

Bei einer Lesung aus meinem Buch mit Gerichtsreportagen in einer kleinen Stadt saß in der ersten Reihe ein älteres Ehepaar. Während sie hochkonzentriert und sichtlich bewegt zuhörte, blieb sein Gesicht verschlossen, war voller Abwehr. Vielleicht hatte seine Frau ihn zu der Veranstaltung überredet.

Ich las die Geschichte eines Mannes, der seinen Vater erschlagen hatte. Schilderte das Verfahren, was die Beweisaufnahme vor Gericht erbracht hatte, das Auftreten des Mannes und das der vielen Zeugen. Nach anfänglichem Entsetzen wächst bei den Leuten oft eine Art Verständnis und Mitgefühl, wenn man die ganze Geschichte erzählt.

lesung Dieser Ehemann jedoch rief nach der Lesung aus: »Das gibt es bei uns nicht!« Es hielt ihn kaum länger auf dem Stuhl. Seine Frau warf ihm einen langen Blick zu. Weil sie anschließend ein Buch signiert haben wollte, musste er wohl oder übel noch etwas vor Ort verweilen, was ihn sichtbar Überwindung kostete. Eine andere Dame flüsterte mir zu, während ich schrieb und gleichzeitig das Ehepaar beobachtete: »Wegen des Herrn da vorhin: Im Nachbarort hat die Polizei vor zwei Wochen zwei Babyleichen in einer Tiefkühltruhe entdeckt. So viel zu ›Das gibt es bei uns nicht!‹.« Ich lächelte ihr freundlich zu und antwortete, man muss nur sehen wollen. Sie nickte.

Was einen Menschen ausmacht, wird sichtbar, wenn er in Extremsituationen kommt.

Was einen Menschen ausmacht, wird sichtbar, wenn er in Extremsituationen kommt. »Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht«, heißt es in Büchners Woyzeck, und das ist natürlich wahr. Gut und schlecht stecken in jedem von uns. In die Abgründe zu schauen, hinter die Fassade zu blicken, fasziniert uns, weil wir so verstehen, was uns ausmacht.

Und so sind Kriminalgeschichten als eigene Literaturgattung nach wie vor besonders beliebt. Der Leser begibt sich in eine Welt, die er im Realen fürchtet, im Buch aber faszinierend findet. Krimis sowie Gerichtsreportagen, von denen einige immer schon mehr Literatur als Journalismus waren, sind eine besondere Gattung.

grenze Sie wurden stets gerne gelesen, weil wir verstehen wollen, wie es dazu kommen kann, dass jemand die zivilisatorische Grenze überschreitet. Weil wir, wenn wir ehrlich zu uns sind, wissen, dass der Firnis oft dünn ist. Jeder kennt Momente des Zorns, unbändiger Wut, hat Augenblicke erlebt, in denen uns eine Banalität überkochen lässt – der sprichwörtlich letzte Tropfen – und der Verstand aussetzt. Wir wissen um die Macht der Gier nach Geld und Liebe, nach Berührung und Anerkennung. Romantisch weichgezeichnet, die Sehnsucht.

Wir sehnen uns nach Harmonie, einem Ort, an dem wir zu Hause sind, kommen mitunter mit schwerem Gepäck dort an und laden ihn mit all unseren Erwartungen auf. Die meisten Menschen sind zu allerlei Kompromissen bereit, nur um nicht allein zu sein – oder finanziell abgesichert. Was passiert, wenn unsere Hoffnungen und unser Vertrauen missbraucht werden? Wenn die Liebe nicht erwidert wird, oder zumindest nicht so, wie wir es uns wünschen? Unser Rückzugsort sich in einen Hochspannungssektor verwandelt?

Meist geht die Sache ja irgendwie gut aus – zumindest in strafrechtlicher Hinsicht. Gerade wenn wir beobachten, wie das Minenfeld von Ehe und Familie, das Heim, sich in ein tatsächliches Schlachtfeld verwandelt, erfasst uns ein Schaudern. Wir lesen über Beziehungstaten wie von Stellvertreterkriegen, sind Davongekommene. Eine Art Katharsis, die es uns natürlich auch ermöglicht, nicht an die Leichen im eigenen Keller zu denken. Wie der ältere Herr bei meiner Lesung können wir uns kopfschüttelnd abwenden und uns als die besseren Menschen fühlen: Das würde ich nie tun!

fragilität Die Gerichtsreportage erzählt wie der Krimi oder Thriller von der Fragilität unserer Existenz. Sie berührt uns jedoch anders als ein Krimi, weil die Geschichten wahr sind, sich nebenan abspielen. Jeder kann Opfer werden oder Täter. Oft hat man einfach nur Glück. Situationen, in denen wir Schuld auf uns laden, gibt es unzählige. Der Schritt auf die Anklagebank ist oft nur ein kleiner.

Im Gerichtsprozess wird die Kette der Ereignisse, der Vorkrieg, für uns aufgerollt, Stein um Stein umgedreht, um zu verstehen, wie es zu einer Tat kam.

Im Gerichtsprozess wird die Kette der Ereignisse, der Vorkrieg, für uns aufgerollt, Stein um Stein umgedreht, um zu verstehen, wie es zu einer Tat kam. Fremde Leben werden vor uns ausgebreitet, ein Blick in Parallelwelten. Vieles verstehen wir nicht, uns fehlt die Fantasie – oder wir halten sie in Schach. Doch haben wir gerade wieder an Jom Kippur, dem Tag der Sühne, nicht nur um Vergebung für all die schlechten Dinge gebeten, die wir getan haben, sondern auch für die, die wir nur gedacht haben. Es sind Versuche, die Rumpelkammer ein wenig aufzuräumen – um oft anschließend im neuen Jahr genauso weiterzumachen.

»Vorgestalten« nennen forensische Psychiater die finsteren Gedanken, wenn gekränkte Eitelkeit, fortlaufende Verletzungen, wie auch immer geartet, Rache wachsen lassen. Zu Straftaten führt nicht nur der Tunnelblick des Täters mit seiner individuellen Beschaffenheit und seiner Biografie, sein ganzes Umfeld spielt eine Rolle.

Die Hintergründe zu erfahren, nicht nur von Tat und Urteil in der Zeitung oder im Krimi zu lesen, lehrt uns viel über uns selbst und unser Miteinander. Die Abgründe sind das Interessante und Spannende. Und ein bisschen Voyeurismus und wohliger Schauer sind auch dabei. Nicht zuletzt sind die Geschichten der anderen überaus unterhaltsam – Plotkes für den Marktplatz (und die Synagoge).

Eine Sammlung der Gerichtsberichte unserer Autorin ist bei S. Fischer erschienen: »›Und ich würde es wieder tun‹. Wahre Fälle vor Gericht«.

Kultur

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