Buenos Aires, 1949: Helmut Gregor hat gerade eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, arbeitet auf Baustellen und streift durch die Stadt. Ihm geht es gut im sonnigen Süden. Nur erkennen darf ihn möglichst keiner. Denn eigentlich heißt er Josef Mengele und war der Lagerarzt von Auschwitz.
Er, der Tausende Menschen in den Tod schickte, Schwangere bestialisch zu Tode quälte, Säuglinge auf unaussprechliche Weise folterte, abscheuliche Experimente an Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen durchführe, sie ermordete, hat im Argentinien unter Präsident Juan Perón Zuflucht gefunden.
hilfe Die Wirtschaft des Landes boomt, und Mengele ist dabei, es sich in dem Netzwerk aus reichen und ebenfalls geflüchteten Nazis und deren Bewunderern bequem zu machen. Neue Papiere hier, ein Unterschlupf da, und zwischendurch Finanzspritzen von den Familien in Deutschland. So ist das, 1949 in Buenos Aires. Und so bleibt es. Erst einmal.
Der französische Bestsellerautor Olivier Guez hat seinen Roman den letzten 30 Lebensjahren Mengeles gewidmet und zeichnet in Das Verschwinden des Josef Mengele (La disparition de Josef Mengele) das Bild eines Massenmörders, der bis zum Schluss davon überzeugt ist, nur Befehle ausgeführt zu haben.
Unterteilt ist Guez’ Roman in zwei Abschnitte: In »Der Pascha« schildert der Schriftsteller das neue Leben von Josef Mengele. Ein Großkotz mit zwei Rassenwahn-Doktortiteln, der sich heimlich die Nazi-Zeitschrift »Der Weg« kauft und die Frau seines verstorbenen Bruders heiratet. Er fühlt sich sicher, denn in Deutschland interessiert sich niemand für den Verbleib des Kriegsverbrechers und Massenmörders. Die deutsche Botschaft in Buenos Aires stellt ihm sogar eine Geburtsurkunde mit seinem richtigen Namen aus.
versteck Doch dann kommt der Mai 1960. Adolf Eichmann wird vom israelischen Geheimdienst Mossad entführt. Und damit beginnt der zweite Teil des Buches – »Die Ratte«, die bis in die Tiefen des brasilianischen Regenwaldes und wieder hinaus flüchtet. Die isoliert ist, wahnhaft und immer verrückter wird. Die sich aber der Unterstützung der Nationalsozialisten in Südamerika ziemlich sicher sein kann. So hat Mengele bereits seit 1959 einen paraguayischen Pass – den Beziehungen sei Dank –, und das Geld für seine Helfer und Menschen, die ihn verstecken, ist ebenfalls gesichert.
Es sind die nüchternen, manchmal chronologisch, manchmal rückblickenden Beschreibungen der gut vernetzten Nazis und der offenkundig desinteressierten Behörden in Deutschland und in Südamerika, die immer wieder fassungsloses Kopfschütteln verursachen. Olivier Guez hat sein Buch zwar dem Genre Roman zugeordnet, aber an vielen Stellen liest es sich wie eine Reportage – mit vielen schrecklichen und unglaublichen, aber historisch verbürgten Details.
Viele Fakten mögen vielleicht nicht ganz neu sein – die sogenannte Rattenlinie, Eichmanns Verhaftung oder dass die Firma der Familie Mengele in Deutschland nach dem Krieg erfolgreich landwirtschaftliche Geräte verkaufte. Dennoch ist Das Verschwinden des Josef Mengele ein Buch, das gelesen werden sollte. Gerade heute. Denn wie schreibt Olivier Guez im Epilog: »Immer, nach zwei oder drei Generationen, wenn das Gedächtnis verkümmert und die letzten Zeugen der vorherigen Massaker sterben, erlöscht die Vernunft, und die Menschen säen wieder das Böse.«
Olivier Guez: »Das Verschwinden des Josef Mengele«. Aufbau, Berlin 2018, 224 S., 20 €