Über 30 Jahre ist eine lange Zeit. Mehr als 30 Jahre leitet Daniel Barenboim die Staatskapelle Berlin. Er war der Richtige, ein Glücksfall, damals, nach der Wende: ein Weltenbummler für Deutschlands Hauptstadt, ein Intellektueller, ein politisch denkender Musiker – und ein Jude.
Ein politisch keineswegs unumstrittener Jude, der die Konfrontation nie fürchtete. Wagner in Israel? Barenboim hat es gewagt. Aussöhnung mit Palästinensern? Barenboim hat, Hand in Hand mit Edward Said, dafür geworben.
weltorchester Vor allem aber hat Daniel Barenboim aus einer etwas klapprigen DDR-Combo mit viel Nostalgie ein hochmodernes, perfekt geöltes und hochbezahltes Weltorchester gemacht. Barenboim hat – anders als Simon Rattle zeitgleich bei den Berliner Philharmonikern – den historischen Geist der Staatskapelle ernst genommen, ihn gemeinsam mit den Musikerinnen und Musikern restauriert, das Orchester saniert, wie später das Opernhaus Unter den Linden.
Daniel Barenboim, der Musikchef, der Philosoph, der politische Strippenzieher und Musikerzieher hat die Staatsoper Unter den Linden in gut 30 Jahren in einen Ort der Sinnlichkeit und Intellektualität, des Experimentes und der Perfektion, des Glanzes und der schweißtreibenden Arbeit verwandelt.
Unter ihm wurde die Staatskapelle zu einem charakteristischen Orchester, zum Anlaufpunkt für musikalische Bildung, zum Spielplatz für Kinder, zum Wohnzimmer großer Komponisten und noch größerer Stimmen. Daniel Barenboim hat einen Klang aus andauernder Spannung zwischen Schwerelosigkeit und Erdanziehung geschaffen, zwischen Himmel und Erde. Wagner aus dem Weltall, eine Carmen aus dem Staub Spaniens, Beethoven als galaktischer Befreier, Bruckner als spirituelle Herausforderung.
GEIST Daniel Barenboims größtes Vorbild ist Spinoza. Und dessen Credo war es, dass Gott sich in der Liebe offenbart, im allgegenwärtigen Geist der Natur. Der Geist von Daniel Barenboim hat sich inzwischen ebenfalls allgegenwärtig unter jede Balkon-Vergoldung, in jedes rot geplüschte Zuschauer-Polster, in die Dielen des Orchestergrabens und in den Bühnenhimmel der Staatsoper gelegt. Die Staatskapelle ist zu Daniel Barenboims Haus geworden, während Daniel Barenboim er selbst geblieben ist.
Daniel Barenboims größtes Vorbild ist Spinoza. Und dessen Credo war es, dass Gott sich in der Liebe offenbart, im allgegenwärtigen Geist der Natur.
Nun hat der Dirigent seinen vorzeitigen Rücktritt angekündigt. Aufgrund seiner Erkrankung. Ihm fehle die Kraft für dieses große Amt, ließ er wissen. Und sein Orchester verneigt sich in einem offenen Brief vor seinem »Maestro«. In Dankbarkeit. Tatsächlich gehört auch das inzwischen zum Werk Barenboims: Der Humanist hat für den perfekten Klang wohl nicht immer nach den Regeln der Mitmenschlichkeit gespielt.
Das »VAN Magazin« berichtete über Führungsschwäche, über Kritik unter der Gürtellinie, über ein »System der Angst«. Das einstige Wunderkind ist im Guten wie im Schlechten oft ein trotziges Kind geblieben. Barenboim erklärte seinen intellektuellen Status als Zustand der »wissenden Naivität«. Ein Mensch, der seinen Willen einfordert: unendlich charmant oder rücksichtslos trotzig.
Tatsächlich ist Barenboim auch ein Dirigent des Gestern, einer, der seine Weihen von anderen »Maestri« empfangen hat und davon ausgeht, sein Erbe selbst bestimmen zu können. Dazu hat er, so scheint es, nun ausgerechnet seinen ehemaligen Schüler und Antipoden ausgewählt: Christian Thielemann. Als dieser Chef an der Deutschen Oper im Westen Berlins war, beklagte er sich über die privilegierte Stellung der Staatskapelle, darüber, dass so viele Gelder zu Barenboim flossen – und verließ die Hauptstadt schließlich im Streit.
CHRISTIAN THIELEMANN Barenboim hat Thielemann jetzt zurück nach Berlin geholt, ihn gebeten, für seinen letzten großen Traum einzuspringen, den Ring des Nibelungen für ihn zu übernehmen. Die beiden haben sich mehrfach getroffen, sind essen gegangen, haben Gemeinsamkeiten entdeckt – besonders ihre Wagner-Lehren im »Mystischen Abgrund« der Bayreuther Festspiele. Barenboim, so scheint es, würde sich Thielemann als Nachfolger wünschen.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Berlins Kultur wird derzeit noch von einem linken Senator, von Klaus Lederer, regiert. Der hatte Barenboims Vertrag bereits 2019, mitten in der Krise, vollkommen ohne Not, bis 2027 verlängert und sich damit auch die Kritik am Führungsstil des Dirigenten ans Bein gebunden.
Außerdem wurde für 2024 eine neue Intendantin, Elisabeth Sobotka, benannt, die den scheidenden Opernchef Matthias Schulz ersetzen soll – er geht nach Zürich. Die Staatsoper Unter den Linden hat nach über 30 Jahren die Chance auf einen grundlegenden Neuanfang. Ob man da noch immer auf den Wunsch von Daniel Barenboim hören wird, ist offen.