Man muss nicht das Glück gehabt haben, eines seiner zahlreichen Konzerte miterleben zu dürfen, wo er als Pianist oder Dirigent – nach dem Fall der Mauer exzentrischerweise sogar vor Baukränen – in Erscheinung trat und tritt. Man muss nicht einmal eine seiner vielen, mit Preisen überhäuften Plattenaufnahmen kennen, um zu wissen, wer Daniel Barenboim ist: eine jener »Jahrhundertfiguren«, die die eigene Zeit ebenso prägen wie sie ihr Ausdruck verleihen.
Seit mehr als sieben Jahrzehnten gehört Barenboim zu den bekanntesten lebenden Musikern. Mit acht Jahren wanderte das damalige Wunderkind russisch-jüdischer Herkunft von Argentinien nach Israel aus, wo Barenboim mit Politgrößen wie Ben Gurion und Schimon Peres Umgang hatte. Als junger Pianist im London der Swinging Sixties war er ebenfalls ein gefeierter Star wie in den frühen 70er-Jahren, als er mit der großartigen Cellistin Jacqueline du Pré, seiner ersten Frau, ein musikalisch-privates Traumpaar bildete.
berlin Die stete Präsenz als Operndirigent und Orchesterleiter in den großen Konzertsälen dieser Welt lässt das Publikum seit mehr als einem halben Jahrhundert in seine Konzerte strömen. Barenboims musikalische Basis aber ist und bleibt Berlin. Oder genauer: die Staatsoper Unter den Linden, wo er seit über einem Vierteljahrhundert als Generalmusikdirektor amtiert. Seit dem Jahr 2000 sogar als »Chefdirigent auf Lebenszeit«.
Doch muss man Daniel Barenboim, dessen Geburtstag sich heute zum 75. Mal jährt, selbst am Flügel oder am Pult erlebt haben, um zu begreifen, was für ein grandioser Musiker er ist. Der Verfasser dieser Zeilen hat ihn, Mitte der 70er-Jahre, zum ersten Mal in der riesigen Royal Albert Hall in London eine Beethoven-Symphonie dirigieren sehen und weiß noch heute um den Moment, in dem Barenboim das Orchester zusammenhielt und zur Coda führte.
Oder wie er, 40 Jahre später, bei Maurice Ravels Boléro, in dem die Melodie von einem Instrument ans andere weitergegeben wird, die Berliner Philharmoniker wie ein Jazz-Orchester »swingen« ließ – wobei er gelegentlich die Arme verschränkte und das Konzert der von ihm entfesselten und befreiten Einzelstimmen sichtlich ebenso genoss wie das hingerissene Publikum.
Rückschläge Daniel Barenboim hat ein reiches, fast beispielhaft gelungenes Leben geführt. Ein Leben, bei dem man gerne vergisst, welche Schwierigkeiten und Rückschläge darin zu überwinden waren, von privaten Sorgen und Nöten, die ihn genauso trafen wie jeden anderen, von der fürchterlichen, mörderisch langsam fortschreitenden Muskel-Krankheit, die ihm die geliebte erste Frau raubte, nicht zu reden.
Was den Dirigenten und Pianisten als Künstler spezifisch jüdisch macht, ist vielleicht die ihm eigene Verbindung von Traditionsbewusstsein und Modernität; seine Fähigkeit, Vergangenes als Gegenwart zu begreifen und zugleich radikal in die Zukunft weiter zu führen. Er kann wohl gar nicht anders, als die Welt in musikalischen Begriffen wahrzunehmen, sogar wenn es um handfeste Politik geht, zu der er sich, hierin ein typischer Israeli, sehr direkt äußert, wie etwa zum Osloer Friedensprozess: »Eine langsame Introduktion, die viel zu schnell, und ein schnelles Hauptthema, das viel zu langsam und mit Unterbrechungen dirigiert wurde.«
Man hat Daniel Barenboim, dem Juden und Israeli, gelegentlich übel genommen, dass ihm Richard Wagner so viel bedeutet, dass er ihn sogar in Israel, bei einem Gastspiel der Berliner Staatskapelle in seiner zweiten Heimatstadt Tel Aviv, aufgeführt hat, wo dieser Komponist seit den Pogromen am 9. November 1938 nicht mehr öffentlich gespielt wurde. Dabei legt der leidenschaftliche und berühmt gute Wagner-Dirigent Wert darauf, dass dies erst nach einer 40-minütigen Publikumsdiskussion und nur als zweite Zugabe erfolgte – die, wie anders, von den verbleibenden Zuschauern mit großem Beifall belohnt wurde.
Politik Daniel Barenboim ist ein Mann der Praxis, ein Mann der Tat. Angefangen vom eigens für ihn entwickelten neuen Flügel bis hin zu dem ohne ihn wohl kaum zustande gekommenen Umbau der Berliner Staatsoper zu einem der modernsten Häuser der Welt wie im Hinblick auf seine unverhohlen »linken« Ansichten zum Nahostkonflikt, die zu dem von ihm gegründeten und betriebenen »West-Eastern Divan Orchestra« führten, in dem junge arabische und israelische Musiker gemeinsam auftreten.
Selbst wenn man Barenboims politische Einschätzungen nicht teilt – und dafür gibt es gute Gründe, etwa wenn er die jüdischen Siedlungen im Westjordanland ein »Krebsgeschwür« nennt –, sollte man bedenken, dass hier eine der wenigen Möglichkeiten geschaffen wurde, wo sich junge Menschen der verfeindeten Gruppen begegnen können, in einem Orchester, wo man sich auch unter Normalbedingungen nicht ständig in den Armen liegt, aber im Interesse einer höheren, gemeinsamen Sache, der Musik, Probe um Probe und Auftritt für Auftritt zusammenfindet.
Dass ihm dies im vom Architekten Frank Gehry für die »Barenboim-Said-Akademie« entworfenen, herrlichen neuen »Pierre Boulez Saal« wie an seinen vielen anderen Wirkungsstätten noch lange in Gesundheit, Freude und Schaffenskraft vergönnt sein möge, ist ihm, seinen Orchestern und uns allen von Herzen zu wünschen!