Eigentlich sind Jubiläen dazu da, das bereits Geleistete ordentlich zu feiern und einen Blick in die Zukunft zu wagen. Umso erstaunlicher, dass das Hamburger Institut für Sozialforschung ausgerechnet im 40. Jahr seines Bestehens bekannt gibt, in vier Jahren seine Pforten schließen zu wollen.
2028 soll definitiv Schluss sein, hieß es Mitte Januar in einer knappen Presseerklärung. Dann nämlich wird Wolfgang Knöbl, der seit 2015 der Direktor des Hauses ist, in den Ruhestand gehen. »Eine Nachfolge wird es nicht geben«, heißt es. Zuvor stand Jan Philipp Reemtsma, der Stifter des Instituts, das ausschließlich mit Mitteln aus seinem Privatvermögen getragen wird, an der Spitze.
Doch nicht nur das Ausscheiden eines renommierten Soziologen wie Knöbl aus Altersgründen wird als Erklärung für den Entschluss genannt. Es gehe auch um die Unabhängigkeit des Instituts für Sozialforschung, sollte es eines Tages unter der Ägide einer Universität oder Forschungseinrichtung, beispielsweise der Max-Planck-Gesellschaft, weiterbetrieben werden. Das aber wollen sein Stifter und Direktor auf jeden Fall vermeiden, weil man dann nur ein »beliebiges sozialwissenschaftliches Institut« unter vielen sei und andere die Agenda diktieren würden.
Freiheit zur Willkür der Gestaltung
»Die Freiheit, die ich habe als Mäzen, es selbst zu tun, was ich für richtig halte oder jemandem es zu übergeben und mit ihm den Etat festzulegen und ihm ansonsten die Freiheit zur Willkür der Gestaltung zu geben, finden Sie in anderen Konstellationen nicht«, erläuterte Reemtsma eine Woche nach Bekanntgabe der geplanten Schließung bei einer Pressekonferenz. »Das können Sie nicht perpetuieren. Das war aber, wenn Sie so wollen, der Witz dieses Hamburger Instituts für Sozialforschung.«
Die Legende von der sauberen Wehrmacht wurde als verlogenes Narrativ widerlegt.
Die Arbeit des Hauses war jedoch alles andere ein Witz. Mit den vom Institut konzipierten Ausstellungen Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 und Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944 hatte man seit den 90er-Jahren die Legende von der sauberen Wehrmacht endgültig als verlogenes wie auch geschichtsverfälschendes Narrativ widerlegt und die Beteiligung der deutschen Armee an der Schoa in zahlreichen Fällen dokumentieren können. Das gefiel nicht jedem, Traditionsverbände und Kameradschaften liefen damals Sturm gegen die Wanderausstellung, die in den ersten vier Jahren (1995 bis 1999) allein rund 900.000 Besucher anzog.
Mit der für 2028 angekündigten Schließung des Hamburger Instituts für Sozialforschung wird auf jeden Fall eine große Leerstelle in der Forschungslandschaft entstehen. Denn gekleckert hat Jan Philipp Reemtsma nie, sondern eher geklotzt. Und dafür hatte der promovierte Literaturwissenschaftler auch die Mittel. Im Alter von 27 Jahren versilberte er sein Erbe, und zwar die Anteile an den Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH. Daher verfügte er über ein Vermögen von rund 700 Millionen Euro, das es ihm schließlich erlaubte, seinen Interessen, die nicht nur literarischer Natur waren, nachzugehen. Vor allem die Gewaltforschung rückte dabei in sein Interesse, was dann 1984 zur Gründung des Instituts führte und dessen Ausrichtung erklärt.
Flankiert wurde die Forschungsarbeit des Instituts durch den eigenen Verlag »Hamburger Edition«, dessen publizistische Schwerpunkte Antisemitismus, Nationalismus, Stalinismus und Rassismus die inhaltliche Arbeit des Instituts widerspiegeln, sowie die Zeitschrift »Mittelweg 36«.
Ein absolutes Highlight war die Studie von 2006: »Die RAF und der linke Terrorismus«.
Immer wieder wurden dabei neue Themenfelder erschlossen, beispielsweise in dem Buch Die »Judenfrage« im Bild. Der Antisemitismus in nationalsozialistischen Fotoreportagen, dessen Autorin auch die Wirkungsmacht solcher Bilder skizziert und auf Tricks verweist, wie dabei die Ikonografie des Jüdischen ins Negative gekehrt wurde.
Highlight der »Hamburger Edition«
Ein absolutes Highlight der »Hamburger Edition« war ebenfalls die 2006 von Wolfgang Kraushaar herausgegebene Studie Die RAF und der linke Terrorismus. Zu finden ist darin der vom Herausgeber verfasste Beitrag »Antizionismus als Trojanisches Pferd – Zur antisemitischen Dimension in den Kooperationen von Tupamaros West-Berlin, RAF und RZ mit den Palästinensern«, bei dessen erneuter Lektüre man sich die Augen reiben möchte – so vieles davon erscheint erschreckend tagesaktuell und wirft ein Licht auf die problematischen Traditionslinien in manchen Teilen der progressiven Milieus, deren Angehörige heute »Free Palestine from German guilt« brüllen.
Ob es mit dem Verlag und der Zeitschrift weitergeht und was mit dem umfangreichen Archiv und der Bibliothek geschehen soll, darüber wollte Reemtsma sich bisher nicht konkret äußern.
Das Alleinstellungsmerkmal des Hamburger Instituts für Sozialforschung war stets seine Rolle als Schnittstelle zwischen unabhängiger Forschung und dem Lostreten von Debatten, die weit in die Gesellschaft hineinwirkten – die Wehrmachtsausstellung steht dafür exemplarisch. Insofern war es ein Leuchtturm in der akademischen Landschaft. Welche Lücke durch seine geplante Schließung entstehen wird, darüber mag man heute allenfalls spekulieren.