Das Haus, in dem sich der deutsche Philosoph Walter Benjamin in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 mit einer Überdosis Morphium das Leben nahm, liegt versteckt im kleinen spanischen Ort Portbou an der Mittelmeerküste. Nur eine winzige Gedenktafel an der roten Fassade erinnert noch an den großen Kulturkritiker. Die meisten Touristen laufen arglos an dem Haus vorbei. Sie sind nur hier, um sich zu sonnen, ein letztes Mal in diesem Jahr am Meer zu liegen oder in den paar Restaurants am Strand günstige Tapas zu essen.
In Portbou gibt es ein winziges Tourismusbüro. Ein Plakat kündigt einen literarischen Abend an, bei dem die Korrespondenz Benjamins zwischen 1933 und 1940 von zwei Schauspielern gelesen werden soll. Ein kleiner Verein aus dem französischen Nachbarort Banyuls-sur-Mer sorgt dafür, dass man ihn hier nicht ganz vergisst.
Der Philosoph stand der Kritischen Theorie von Max Horkheimer nahe und veröffentlichte in der »Zeitschrift für Sozialforschung«. Zu seinen berühmtesten Veröffentlichungen zählt der 1935 erschienene Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in dem er die These aufstellt, dass die Einzigartigkeit, die »Aura«, eines Kunstwerks durch moderne Vervielfältigungstechniken verloren geht. Ein wesentlicher Teil seines Schaffens, dem er über zehn Jahre seines Lebens gewidmet hat, erschien erst postum unter dem Titel Passagen-Werk (1982). Benjamin galt zudem als einer der profiliertesten Übersetzer französischer Schriftsteller wie Balzac, Baudelaire und Proust. Er war ein Freund Bertolt Brechts.
Weinberge Manch kulturbeflissener Tourist möchte doch mehr über Benjamins Schicksal erfahren: An diesem Sonntagnachmittag erklärt die Fremdenführerin in Portbou einem älteren Spanier mit schwarzem Hut, wie man zum Benjamin-Denkmal kommt. Dieser nickt verständig und zieht mit einer kleinen Karte los, die den Weg zu den Gedenkorten weist. Auf den Broschüren ist Benjamin mit Brille und nachdenklichem Blick abgebildet.
Mithilfe der Widerstandskämpfer Hans und Lisa Fittko, die vom amerikanischen Emergency Rescue Committee unterstützt wurden, hatte Benjamin die Flucht aus dem französischen Ort Banyuls-sur-Mer zu Fuß über einen steinigen Schmugglerpfad angetreten. Der »Chemin Walter Benjamin«, der inmitten von Weinbergen verläuft und Ausblicke auf das blau glitzernde Meer ermöglicht, ist heute bei Touristen sehr beliebt. Auch Lisa Fittko schwärmt trotz der widrigen Umstände in ihrem 1985 erschienenen Buch Mein Weg über die Pyrenäen von der landschaftlichen Schönheit: »Weit unten, von wo wir gekommen waren, sah man wieder das tiefblaue Mittelmeer. Auf der anderen Seite, vor uns, fielen schroffe Klippen ab auf eine Glasplatte aus durchsichtigem Türkis – ein zweites Meer? Ja natürlich, das war die spanische Küste.«
Manuskript Ihrem Bericht zufolge war die Flucht an der Seite des herzkranken Philosophen nicht leicht. Er nahm eine Tasche mit einem Manuskript mit, das bis heute verschollen ist. »Es kam darauf an, einige Menschen vor den Nazis zu retten, und da war ich nun mit diesem komischen Kauz, dem alten Benjamin, der sich unter keinen Umständen von seinem Ballast, von dieser schwarzen Ledertasche trennen würde«, schreibt sie. Offenbar war er sich bewusst, dass die Flucht misslingen konnte, und hatte sich deshalb eine tödliche Dosis Morphium besorgt.
Benjamin war sofort nach der Machtergreifung 1933 nach Paris ausgewandert und wollte nach der Besetzung Frankreichs in die USA fliehen. Doch dazu kam es nicht mehr. Als Benjamin und seine Gefährten nach einem zehnstündigen Fußmarsch in Portbou ankamen, eröffneten ihnen die spanischen Grenzbeamten, dass sie die Gruppe zurückschicken und sie somit den Nationalsozialisten ausliefern würde.
Passagen Einige Treppenstufen und ein Trampelpfad führen zu Benjamins letzter Ruhestätte auf einer Klippe über dem Ort. Heute ist hier nur ein Pärchen mit seinen Hunden unterwegs. Der Wind pfeift. Eine Weile irrt man schon durch den Friedhof mit seinen marmornen Gräbern, bis man den von Kieseln umrandeten Gedenkstein entdeckt. Weiter unten ragt das stählerne Monument »Passagen« aus dem Boden, das der israelische Künstler Dani Karavan 1994 schuf und mit dem er auf Benjamins literarisches Werk anspielt.
Er kreierte mehrere Skulpturen, die eine Art Kreis bilden. »Ich wollte nicht, dass es einen ausgebauten Weg gibt, denn die Menschen sollten die Schwierigkeiten spüren«, sagte Karavan in einem Interview. Das größte Monument ist ein stählerner Tunnel mit einer Treppe im Inneren, die den Blick auf das tosende Meer freigibt. Daneben steht ein Olivenbaum, Symbol des Friedens. Wer hinuntergeht, fühlt sich plötzlich sehr verloren. Wie in Benjamins letzten Tagen gibt es hier keinen Ausweg mehr, nur einen Rückweg.