Geschichte

Der lange Weg zum Staatsbürger

Ohne Zweifel bildet das Jahr 1812 einen Markstein in der deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte. Vor nunmehr 200 Jahren, und zwar am 11. März 1812, genehmigte der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. das sogenannte »Preußische Judenedikt«. Mit ihm wurden die Juden des Landes zu Inländern und Staatsbürgern, und es löste das noch von Friedrich II. erlassene »Revidierte General-Privileg« von 1750 ab, welches die preußischen Juden noch in vielerlei Hinsicht diskriminierte.

Unter den Juden löste das Edikt eine regelrechte Euphorie aus. In zahlreichen an Friedrich Wilhelm III. gerichteten Dankadressen zeigte man sich beglückt über die neu erworbene Stellung als »Staatsbürger« und bekannte sich stolz zum »Vaterland«.

Sicher, den Juden entging nicht, dass, gemessen an der rechtlichen Lage etwa der französischen Juden, vieles noch offen und ungeklärt war. Auf der anderen Seite war man sehr zufrieden über die nunmehrige Anerkennung der Militärpflicht für Juden, deren Ausübung als untrüglicher Beweis dafür galt, dass das gewährte Staatsbürgerrecht keine Fiktion, sondern eine reale Integrationsmöglichkeit war. Eine der Folgen war, dass sich in den Befreiungskriegen 1813 bis 1815 jüdische Freiwillige in allen Provinzen der damaligen preußischen Monarchie zu den Waffen meldeten.

Reform Der Prozess der Anpassung an die christliche Mehrheitsgesellschaft war allerdings nur die eine Seite der Medaille. Gerade unter gesellschaftlich erfolgreichen und aufgeklärten Juden setzte sich zunehmend auch die Ansicht durch, dass ein grundlegend neues jüdisches Selbstverständnis vonnöten sei und mit tiefgreifenden innerjüdischen Reformen einhergehen müsse.

Schnell landen wir dabei bei preußisch-jüdischen Vordenkern wie David Friedländer und Israel Jacobson, die ihr Kampf um eine Radikalreform der jüdischen Religion einte. Jacobson stand an der Spitze der nun einsetzenden religiösen Reformbewegung. In seinem Haus richtete er ab 1815 regelmäßige modernisierte Gottesdienste ein. An diesen Gottesdiensten nahmen manchmal mehr als 400 Berliner Juden teil.

In der Berliner Gemeinde blickten die mehr traditionell eingestellten Gemeindemitglieder dennoch weiter mit großem Unbehagen auf die Entwicklung, die zunehmend deutlicher erkennen ließ, dass es den Reformern nicht allein um ein paar formale Änderungen in der Gottesdienstordnung ging, sondern um eine Prüfung und Modifikation essenzieller Inhalte der althergebrachten jüdischen Tradition.

Die jüdische Reformbewegung blieb zunächst auf einige größere Städte beschränkt. Eines ihrer Kennzeichen war, dass sich Mitglieder der Reformgemeinden mehr oder weniger uneingeschränkt in die deutsche Gesellschaft und Kultur eingebunden fühlten. Nur durch ihre Konfessionszugehörigkeit fühlten sie sich von ihren Mitbürgern unterschieden.

In Städten wie Königsberg, Breslau und Berlin entwickelte sich zwischen den durch Bildung und Besitz aufgestiegenen Kreisen der Gemeinde und der kultivierten Oberschicht von Bürgertum und Adel Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeitweise ein respektabler gesellschaftlicher Umgang. Man begann, die Juden mit anderen Augen zu betrachten, nicht mehr als die Nichtdazugehörigen, sondern als Individuen, die einen Anspruch darauf hatten, ernst genommen zu werden.

Berlin Innerhalb des Berliner Judentums vollzog sich der Transformationsprozess von einer traditionellen hin zu einer sich modern definierenden Gemeinschaft in rasantem Tempo. Auch hier ist die Nähe zum Jahr 1812 und dem verabschiedeten Judenedikt unverkennbar.

Vor allem im Zeitraum von 1815 bis 1850 setzte ein Modernisierungsprozess ein, der nicht nur zur Lockerung der überkommenen Gemeindestrukturen führte, sondern auch tiefgreifende Veränderungen auf sozialem und beruflichem Sektor zur Folge hatte. Aus Hausierern und Handlungsgehilfen wurden Laden- oder Großhändler, aus Trödlern und Wechslern Fabrikanten und Bankiers.

Nach 1830 vollzog sich in der Berliner jüdischen Bevölkerung eine Hinwendung zum Deutschtum, die sich auf nahezu alle Lebensbereiche ausdehnte. In Kleidung, Sprache und Verhalten passte man sich den Normen und Verhaltensweisen der christlichen Umgebungsgesellschaft an. Parallel ergab sich ein rasantes Wachstum der jüdischen Bevölkerung an der Spree. Sie hat sich zwischen 1811 und 1849 etwa verdreifacht.

Reaktion In den kommunalen Gremien blieben Juden jedoch unterrepräsentiert. Die weitgehende Ausgrenzung der Juden von kommunalen Ämtern in den 1820er- und 1830er-Jahren dürfte im Wesentlichen auf die reaktionäre Stimmung zurückzuführen sein, welche sich nach den »Befreiungskriegen« in den deutschen Ländern breitmachte. Typisch ein Ausspruch des Linkshegelianers Bruno Bauer: »Die Taufe macht den Juden noch nicht zum Germanen.«

Innerhalb von wenigen Jahren schienen die emanzipatorischen Errungenschaften von 1812 so wieder in Gefahr. Ambivalente Wirkungen hatte auf die Berliner Juden das »Gesetz über die Verhältnisse der Juden« vom 23. Juli 1847. Darin spiegelte sich zwar wiederum das Prinzip »Gleiche Pflichten, gleiche Rechte«, doch in mancherlei Hinsicht war das Gesetz ein Rückschritt.

Als Vorteil konnte hingegen gesehen werden, dass das Gesetz die Rechtsverfassung der jüdischen Gemeinden regelte. Die jüdische Religionsgemeinschaft, die im Gegensatz zu den christlichen Glaubensgemeinschaften bisher nur geduldet war, erhielt durch dieses Gesetz den Rechtsstatus einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Bot sich den Berliner Juden nun mehr Freiraum in der Gestaltung ihrer Religionsgemeinschaft, erlebten sie nach außen hin eine weitere Politisierung. Je mehr sich die Berliner Juden zu Preußen und zum Deutschtum bekannten, je mehr sie sich von der Vorstellung des Judentums als einer Nation verabschiedeten, desto schärfer sahen sie auch verkrustete und fortschrittsfeindliche Strukturen im Preußischen Staat. Konsequent mischten sie sich nun in den Kampf für einen demokratischeren Staat ein.

Revolution Dabei konnte sich unter vielen Juden auch die Erwartung, Revolution und Erlösung würden zusammenfallen, intensiv mischen. Leopold Zintz zum Beispiel erschienen die Märzereignisse 1848 als das »Weltgericht« für die Unterdrücker – und in der Revolution erblickte er den anbrechenden »Tag des Herren« für die Welt.

Es unterliegt heute keinem Zweifel mehr, dass sich die Berliner Juden, gemessen an ihrem Prozentsatz an der Gesamtbevölkerung, ungewöhnlich zahlreich an den revolutionären Ereignissen des Jahres 1848 beteiligt haben. Berliner Juden haben aber nicht nur auf den Barrikaden gestanden, sondern sich auch politisch in Versammlungen, in demokratischen Vereinen und in der Preußischen Nationalversammlung engagiert.

Fast ohne Ausnahme standen sie dort auf dem linken Flügel. Einer von ihnen war der Arzt und Schriftsteller Johann Jacoby, von dem die berühmten Worte überliefert sind, die er am 2. November 1848 an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. richtete: »Das ist das Unglück der Könige, dass sie die Wahrheit nicht hören wollen!«

Verfassung Auch wenn die Revolution scheiterte und es bei den politischen Verhältnissen nach 1848 weitgehend beim Alten blieb – die Lage der Juden verschlechterte sich nicht, sondern wendete sich zum Besseren. Denn in der revidierten Verfassung vom 31. Januar 1850, die bis zur Revolution vom 9. November 1918 ihre Geltung behalten sollte, war die Gleichheit aller Preußen vor dem Gesetz, auch der Juden, festgelegt.

Das Beispiel der Berliner Gemeinde zeigt, dass sich im Verlauf der Jahre die Verhältnisse konsolidierten. Entsprechend den Vorschriften des Judengesetzes von 1847 wurden in der Berliner Gemeinde ein Vorstand und eine Repräsentantenversammlung gebildet und am 23. Mai 1861 ein Statut verabschiedet, das darauf ausgelegt war, die Einheit der Gemeinde zu wahren.

Zehn Jahre später schlug die Geburtsstunde des Wilhelminischen Kaiserreiches. Hier erlebten nun Juden, gleichgültig, ob sie aus Preußen, Bayern oder Württemberg stammten, ihre verfassungsmäßig abgesicherte rechtliche Gleichstellung. Es schien sich jetzt tatsächlich einiges zum Besseren zu wenden. Den Juden gelang es, in bestimmten Berufen Fuß zu fassen. Die eine oder andere Karriere war geradezu spektakulär.

Das waren indes Ausnahmen. Für die meisten blieb es eine Illusion, von der Umgebungsgesellschaft akzeptiert zu werden. Sie strengten sich an, mussten aber die bittere Erfahrung machen, dass mit der rechtlichen Emanzipation keineswegs die soziale Gleichstellung im realen Leben erfolgte.

Der Autor ist Historiker und Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam. Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung des Eröffnungsvortrags der Konferenz »200 Jahre Emanzipationsedikt in Preußen«, die vom 11. bis 13. März in Potsdam stattfindet.

www.mmz-potsdam.de/index.php?ID_seite=581

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