In Deutschland gibt es eine Tendenz, sich der Verantwortung für die Schoa zu entledigen – eine Forderung, auf die lange Zeit eigentlich nur Rechtsextreme das Patent hatten. Doch nun ist diese auch bei linken Geschichtsrevisionisten angekommen. »Free Palestine from German guilt« wird von Teilen dieses Juste Milieu seit dem 7. Oktober wahlweise am Auswärtigen Amt oder an deutschen Universitäten skandiert.
Auch an Holocaust-Relativierung fehlt es bei den bundesweit um sich greifenden israelfeindlichen Demonstrationen nicht. In einem offenen Brief warnten namhafte Historiker bereits vor dem Missbrauch der Schoa – nicht aber, weil ebenjene Demonstranten Israels Recht auf Selbstverteidigung in bester Täter-Opfer-Umkehr mit den Gräueltaten der Nazis vergleichen.
Vielmehr kritisieren sie jene, die auf Parallelen zwischen dem NS-Vernichtungsantisemitismus und dem schlimmsten antisemitischen Pogrom seit 1945 hinweisen. Was derzeit auf deutschen Straßen zu beobachten ist, kann mitunter als Resultat einer schon länger anhaltenden Debatte verstanden werden.
Postkoloniale Theoretiker
Im sogenannten Historikerstreit 2.0 behaupten vor allem postkoloniale Theoretiker, die Erinnerung an den Holocaust würde eine solche an andere Menschheitsverbrechen blockieren. Ein neuer Sammelband des Verbrecher Verlags nimmt sich dieser Diskussion an. Der Titel Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der »Historikerstreit 2.0« ist quasi Programm.
Das Buch ist in drei Kapitel aufgeteilt. Zu Beginn wird anhand historischer Details die Präzedenzlosigkeit des Holocaust dargestellt und an Beispielen gezeigt, wie die Erinnerung daran seit 1945 immer wieder Gegenstand von Angriffen werden sollte. Daran anknüpfend werden verschiedene Umdeutungsversuche analysiert, um sich dann im letzten Kapitel der Erinnerungsabwehr und dem Antisemitismus der Gegenwart zu widmen.
Entstanden ist das Buch vor dem 7. Oktober. Die darin enthaltenen Beiträge sind dennoch wertvoll für ein Verständnis der aktuellen Situation. Lars Rensmann etwa beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA), die die international anerkannte Arbeitsdefinition zu Antisemitismus der IHRA abzulösen versuchte.
Er zeigt, warum die JDA sich nicht zur Bekämpfung des Antisemitismus eignet, sondern zu subjektivistischer Willkür führt. Es gehe weniger darum, Antisemitismus zu benennen, als vielmehr Antisemitismus zu nivellieren – vor allem in seiner israelbezogenen Form.
Expertise simulieren
Für die nötige Autorität wird ein simpler Taschenspielertrick angewendet. Zu Beginn der Erklärung wird darauf verwiesen, sie sei von Wissenschaftlern verfasst, »die in der Antisemitismusforschung und in verwandten Bereichen arbeiten«. Mehrheitlich aber, so betont Rensmann, handelt es sich um fachfremde Autoren. Mit diesem selbstbewusst proklamierten Ort des Sprechakts würde man Expertise simulieren.
Der Inhalt müsse nicht mehr kritisch überprüft werden, denn die Namen der Beteiligten würden bereits für sich sprechen. Das ist eine Taktik, die derzeit auch bei den unzähligen »Offenen Briefen« zu beobachten ist, die durch ihre bekannten Unterzeichner über die unhaltbaren Vorwürfe gegen Israel hinwegtäuschen.
Der Sammelband, in dem auch der Historiker Yehuda Bauer zu Wort kommt, ist eine Verteidigung gegen Angriffe auf die Erinnerung von gestern bis heute und ein Festhalten an einer klaren Analyse des Antisemitismus.
Stefan Grigat, Jakob Hoffmann, Marc Seul und Andreas Stahl (Hrsg.): »Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der ›Historikerstreit 2.0‹«. Verbrecher, Berlin 2023, 470 S., 29 €