Manchen Zeitgenossen scheint eine geradezu prophetische Gabe gegeben zu sein, wenn sie gesellschaftliche oder politische Ereignisse vorhersagen, die dann Jahre oder Jahrzehnte später tatsächlich so oder so ähnlich eintreten. In der Regel muss man aber keine übersinnlichen Eingebungen vermuten, vielmehr ist es der wache Blick für die Gegenwart, der sie aktuelle Zeiterscheinungen zu ihrem Ende hin denken und in die Zukunft extrapolieren lässt.
So war es auch bei dem bayerischen Verwaltungsjuristen Siegfried Lichtenstaedter (1865–1942), den der Historiker Götz Aly in seinem Buch Warum die Deutschen? Warum die Juden? von 2011 ausführlich zitiert. Unter anderem hat Lichtenstaedter in seinen satirischen Texten bereits um die Jahrhundertwende die kommende Nazi-Diktatur vorhergesagt.
ANSCHLUSS Jetzt hat Götz Aly unter dem Titel Prophet der Vernichtung. Über Volksgeist und Judenhass einen Band mit Schriften Lichtenstaedters herausgegeben. Enthalten sind neben der autobiografisch geprägten Satire »Der jüdische Gerichtsvollzieher«, Parodien auf Beiträge in der völkischen Presse, Briefen an Politiker und ernsthaften Debattenbeiträgen auch Auszüge aus dem zweibändigen Werk Das neue Weltreich – Ein Beitrag zur Geschichte des 20. Jahrhunderts von 1901 beziehungsweise 1903, worin Lichtenstaedter den Sieg der völkischen Bewegung und für die Jahre 1939 und 1940 den »Anschluss« Österreichs an Deutschland, einen Krieg gegen das »Slawentum« und einen Pakt mit Russland um Einflusssphären in Osteuropa voraussagt – in der Terminierung geradezu unheimlich nahe an den Zeitpunkten, an denen diese historischen Ereignisse tatsächlich eintreten sollten.
Bereits 1901 sah Lichtenstaedter die Nazizeit und den Zweiten Weltkrieg voraus.
Und bereits im Jahr 1923 warnte Lichtenstaedter vor der Möglichkeit einer physischen Vernichtung der europäischen Juden. Seine regelmäßige Lektüre der völkischen Presse hatte ihn diesbezüglich hellhörig gemacht. In einem Text von 1926 parodiert Lichtenstaedter die Sorge, die Juden könnten wegen ihres Bildungsvorsprungs die Deutschen von den Universitäten, aus dem öffentlichen Dienst und schließlich aus dem gesamten öffentlichen Leben verdrängen.
Aly stellt der Satire eine tatsächliche Rede des antisemitischen Landtagsabgeordneten Ottmar Rutz aus dieser Zeit gegenüber, und wenn man nicht wüsste, welcher Text von welchem Autor stammt, könnte man auch das Original für die Parodie halten, so grotesk wirken die darin zum Ausdruck gebrachten Ressentiments.
VÖLKERMORD Einige der Ansichten Lichtenstaedters wirken heute allerdings befremdlich. So befürwortete er im Falle ethnischer Konflikte eine Politik des Bevölkerungsaustauschs. Zum Beispiel schlug er vor, bedrohte christliche Minderheiten im Osmanischen Reich wie Armenier und Griechen nach Amerika umzusiedeln, um einem Völkermord an ihnen vorzubeugen (das Osmanische Reich selbst konnte er sich dabei nur als Opfer des europäischen Kolonialismus vorstellen, das mit seiner Minderheitenpolitik lediglich auf äußeren Druck reagiere).
Und als Reaktion auf die Balfour-Deklaration warnte er im Jahr 1918 eindringlich vor der Errichtung eines jüdischen Staates – mit der Begründung, dass damit die europäische Moderne nach Palästina eindringen würde, das er vielmehr als eine Art biblisches Freilichtmuseum erhalten wissen wollte. Als er dann im Jahr 1936 Tel Aviv besuchte, war er jedoch voller Bewunderung für die Aufbauleistung der jüdischen Pioniere. Unglücklicherweise kehrte er von seiner Reise wieder nach Deutschland zurück – ein Verbleib in Palästina hätte ihn vor der Ermordung in Theresienstadt im Jahr 1942 bewahrt.
Aber wie Götz Aly in seinem Vorwort richtig feststellt: Wer viel denkt, der irrt auch viel, und allein für seine luzide Analyse des deutschen völkischen Antisemitismus und die Warnung vor seinen Folgen gebührt Siegfried Lichtenstaedter ein bleibender Platz im historischen Gedächtnis.
Siegfried Lichtenstaedter: »Prophet der Vernichtung. Über Volksgeist und Judenhass«. Herausgegeben und mit begleitenden Essays von Götz Aly. S. Fischer, Frankfurt/M. 2019, 288 S., 22 €