Liebe macht blind, sagt man und denkt an die Liebe zu einem Menschen. Doch auch die Liebe zu einem Land kann blind machen. So erging es dem jüdischen Kaufmann Fritz Beckhardt, Jahrgang 1889, aus dem Wiesbadener Vorort Sonnenberg.
Wegen »Rassenschande« sitzt er Ende der 30er-Jahre erst im Gefängnis und danach monatelang im KZ Buchenwald. Schließlich gelingt es ihm, sich nach England zu retten und dort eine neue Existenz aufzubauen. Doch 1948 besucht er Deutschland – und entscheidet über die Köpfe seiner Familie hinweg: »Wir gehen zurück!«
patriot Im März 1950 trifft Fritz Beckhardt mit seiner Frau Rosa Emma und dem damals 23-jährigen Sohn Kurt – der diesen Schritt bis heute bereut – in Wiesbaden ein. Wenig später bekommt er sein Geschäft zurück.
Die Kunden bleiben aus. Die einen, weil sie immer noch von Goebbels’ Propaganda geprägt sind, die anderen, weil sie sich genieren: Wie treten wir diesen Leuten unter die Augen? In den Behörden sitzen alte Nazis, die es Fritz Beckhardt schwermachen, sein früheres Eigentum zurückzubekommen. Er wird wie ein Bittsteller gedemütigt. Enttäuscht und verbittert erleidet er mehrere Schlaganfälle, bis er 1962 stirbt – sechs Wochen, nachdem sein erster Enkel geboren wurde.
Dieser Enkel, Lorenz Beckhardt, ist Journalist beim WDR und hat die Geschichte seines Großvaters unter dem Titel Der Jude mit dem Hakenkreuz aufgeschrieben. Das Coverfoto zeigt ein Propellerflugzeug mit Swastika – Fritz Beckhardts Glückszeichen als Kampfpilot im Ersten Weltkrieg. Im Frühjahr 1918 flog er in einem Jagdgeschwader an der Seite des späteren Nazi-Reichmarschalls Hermann Göring und erhielt ein knappes Dutzend Orden, darunter das Eiserne Kreuz I. Klasse. 20 Jahre später zählte all das nichts mehr.
taufe Beckhardt erzählt die Geschichte seiner Familie vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis heute und verwebt sie mit der Geschichte der deutschen Juden und mit Reflexionen über sein eigenes Jüdischsein. Dass er Jude ist, erfuhr er erst mit 18 Jahren. Die Eltern hielten es, nach dem, was sie erlebt hatten, für besser, ihr Kind in Deutschland nicht als Jude aufwachsen zu lassen. Sie ließen es sogar taufen – »weniger eine religiöse Zeremonie als ein Verwaltungsakt, der mich vor der ›arischen‹ Mehrheit schützt«.
Als Erwachsener hat Beckhardt viele Jahre lang die Geschichte seiner Familie erforscht und sich allmählich dem Judentum genähert. »Es schmerzt, aber es fühlt sich gut an«, lautet der erste Satz in dem Buch, das damit beginnt, dass der Autor sich im Alter von 45 Jahren beschneiden lässt. Damit erfüllt er seinen Teil eines Versprechens. Großvater Fritz Beckhardt hatte es seinem Schwiegervater, der später in Treblinka ermordet wurde, 1940 kurz vor der Ausreise nach England gegeben: »Papa, Hitler wird den Krieg verlieren. Ich verspreche dir, wir kommen zurück; auch nach diesen ›tausend‹ Jahren wird es noch Juden am Rhein geben.«
Lorenz S. Beckhardt: »Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie««. Aufbau, Berlin 2014, 480 S., 24,95 €