Nachruf

Der jiddische Dante

Parallel zum Dizengoffboulevard, der bunten Lebensader Tel Avivs, verläuft eine kleine Straße, benannt nach dem preußisch-jüdischen Historiker Heinrich Graetz. An ihrem Ende stößt sie auf die Rehov Shir, die »Gedicht-Straße«. Dort steht ein Altenheim: keines der luxuriösen Art, nicht einmal komfortabel, eingerichtet für Menschen, von denen man annimmt, dass sie keine großen Ansprüche mehr haben. Der kleine Springbrunnen im Eingangsbereich ist verödet, die Hollywoodschaukel aus den Angeln. Drinnen stickige Luft, enge Gänge, kleine Räume.

Hier lebte zuletzt in einem Dreibettzimmer Abraham Sutzkever, israelischer Nationalpreisträger und Ehrenbürger der Stadt Tel Aviv. Vor gut einem halben Jahr schob ihn seine Tochter Mire im Rollstuhl auf das Dach des Hauses. Besuch aus Deutschland war gekommen. Der Anblick Sutzkevers war erschreckend, vor allem, wenn man die Fotos kannte, die ihn als Partisan im Zweiten Weltkrieg zeigten oder als Spaziergänger in Paris, das er liebte und wo er regelmäßig seinen Freund Marc Chagall besuchte. Sutzkever war ein großer Mann mit feinen, vergeistigten Gesichtszügen und einem Schnurrbart, der ihm in jungen Jahren Härte gab und später im Alter Milde. Jetzt saß er im Rollstuhl, schwach, aber immer noch aufrecht. Abraham Sutzkever hatte Hautkrebs. Sein Gesicht war zerstört, er stand unter anhaltendem Medikamenteneinfluss. Kaum ansprechbar, kaum artikulationsfähig, ein Pflegefall. Zu einem Gespräch kam es nicht mehr. Man saß zusammen, Mire übersetzte die verlegenen Freundlichkeiten des Besuchers ins Jiddische. Auf die Nachricht, dass seine Tagebuchaufzeichnungen Wilner Ghetto 1941–1944 gerade auf Deutsch im Züricher Amman Verlag erschienen waren, gemeinsam mit einer Auswahl seiner Gedichte und Prosa, reagierte er aber doch noch mit einem erfreuten »Mazel tov«. Dabei hatte Sutzkever über Jahrzehnte hinweg eine Übertragung seiner Gedichte ins Deutsche vermieden. Deutsch war die Sprache der Mörder.

Reimeffekte Geboren am 15. Juli 1913 in Smorgon, südöstlich von Wilna, das damals zum Russischen Reich gehörte, wuchs Abraham Sutzkever in Sibirien auf. Dorthin hatte der Zar während des Ersten Weltkrieges die Juden vertrieben, da er sie für Spione der Deutschen hielt. Nach dem frühen Tod des Vaters zog Sutzkever mit seiner Mutter zurück nach Wilna, dem Jerusalem des Ostens, in dem eine lebendige religiöse und säkulare jiddische Kultur sich gegenseitig befruchteten. Mit Anfang Zwanzig veröffentlichte er seine ersten Texte in jiddischen Zeitschriften aus Warschau, Wilna und New York. 1937 erschien sein erster Lyrikband. Er wurde Mitglied der Dichter- und Künstlergruppe »Jung-Wilne«. Doch dort war Sutzkever ein Außenseiter. Die jungen Poeten von »Jung-Wilne« propagierten politische, sozial engagierte Dichtung. Sutzkever hingegen, angeregt von französischen und russischen Symbolisten, der Romantik und Edgar Allen Poe, vertrat konsequent einen ästhetischen Dichtungsbegriff. Er schuf verblüffende Wort- und Reimeffekte, grotesk-humorige Balladen und poetische Naturbilder.

1941 wurde Wilna von den Deutschen besetzt. Abraham Sutzkever kam ins Ghetto. Hier wurde der Dichter zum Kämpfer. Mit anderen rettete er jüdische Kulturschätze vor dem Zugriff der Nazis. Er schmuggelte Waffen und Bücher ins Ghetto. Er schrieb, las aus seinen Gedichten, die, so eine ehemalige Leidensgenossin, »Vitamine« waren beim Kampf ums Überleben. Vor der Liquidierung des Ghettos, nach der Ermordung seiner Mutter und seines Sohnes, gelang Sutzkever mit seiner Frau die Flucht in die litauischen Wälder. Er kämpfte an der Seite der Partisanen gegen die Deutschen und wurde auf Initiative von Ilja Ehrenburg nach Moskau ausgeflogen. Bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen sagte er als Zeuge aus. Er besorgte sich eine Waffe, um bei dieser Gelegenheit Göring zu erschießen. Man konnte ihn noch rechtzeitig umstimmen.

Goldene Kette Abraham Sutzkever, der selbst in den bedrohlichsten Situationen gedichtet hatte, fühlte sich fortan verpflichtet, in seinem Werk die Höllen zu schildern, die er und sein Volk erlebt hatten. Im September 1947 ging er nach Palästina, wo ein neuer jüdischer Staat aufgebaut wurde. Ben Gurion bat ihn, in Hebräisch zu schreiben. Doch Sutzkever beharrte auf dem Jiddischen. Nach der weitgehenden Vernichtung seines Volkes wollte er wenigstens dessen Sprache bewahren. Er gab jahrzehntelang die bedeutendste jiddische Zeitschrift der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts heraus, \\»Die goldene Kette\\«, ermutigte junge Schriftsteller in aller Welt, ebenfalls auf Jiddisch zu publizieren.

Vergangene Woche ist Abraham Sutzkever nach langem Leiden in Tel Aviv gestorben. Der jiddische Dante wurde 96 Jahre alt.

London

Hart, härter, Aaron Taylor-Johnson

Ein Marvel-Schurke zu sein, ist körperlich extrem anstrengend. Dies räumt der jüdische Darsteller nach dem »Kraven The Hunter«-Dreh ein

 11.12.2024

PEN Berlin

»Gebot der geistigen und moralischen Hygiene«

Aus Protest gegen Nahost-Resolution: Susan Neiman, Per Leo, Deborah Feldman und andere verlassen den Schriftstellerverein

 11.12.2024

Medien

»Stern«-Reporter Heidemann und die Hitler-Tagebücher

Es war einer der größten Medienskandale: 1983 präsentierte der »Stern« vermeintliche Tagebücher von Adolf Hitler. Kurz darauf stellten die Bände sich als Fälschung heraus. Ihr »Entdecker« ist nun gestorben

von Ann-Kristin Wenzel  10.12.2024

Imanuels Interpreten (2)

Milcho Leviev, der Bossa Nova und die Kommunisten

Der Pianist: »Ich wusste, dass ich Bulgarien verdammt zügig verlassen musste«

von Imanuel Marcus  10.12.2024

Glosse

Der Rest der Welt

»Mein kleiner grüner Kaktus« – ein Leitfaden für Frauen von heute

von Nicole Dreyfus  10.12.2024

Gelsenkirchen

Bayern-Trainer Kompany: Daniel Peretz genießt mein Vertrauen

Daniel Peretz soll Manuel Neuer bis zum Jahresende im Bayern-Tor vertreten. Trainer und Mitspieler vertrauen dem Israeli. Neuer könnte in einem Monat in Gladbach zurückkehren

 10.12.2024

Meinung

PEN Berlin war kurz davor, auf der Seite der Feinde Israels zu stehen

Nur knapp konnte verhindert werden, dass die Schriftstellervereinigung eine Resolution annahm, die von glühender »Israelkritik« geprägt war

von Stefan Laurin  10.12.2024

Beverly Hills

Zahlreiche Juden für Golden Globes nominiert

Darsteller, Regisseure und Komponisten stehen auf der Liste

von Imanuel Marcus  10.12.2024

Kontroverse

»Da sind mittlerweile alle Dämme gebrochen«

PEN Berlin-Gründungsmitglied Lorenz Beckhardt über den Streit über Israel und den Nahostkonflikt

von Michael Thaidigsmann  10.12.2024