Von dem Mann im Fernsehen ging eine eigenartige Faszination aus. Meine Großeltern schienen ihn zu kennen, obwohl sie ihm nie begegnet waren. Es musste ein Geheimnis geben zwischen ihnen, eines, das Erwachsene ungern mit einem Kind teilten.
»Der ist auch a Jid«, murmelte mein Großvater, sobald Hans Rosenthal auf dem Bildschirm erschien. Er neigte den Kopf und schaute meine Großmutter Zustimmung heischend an. Die nickte unmerklich und schwieg. Ein kurzer Satz – ein langes Schweigen. So vergewisserten sich meine Großeltern einmal im Monat, immer an einem Donnerstag, immer um die gleiche Uhrzeit, ihres fragilen Lebens in Deutschland.
duracell-hase Ich war neun Jahre alt, als Dalli Dalli im Mai 1971 im ZDF zum ersten Mal über die Mattscheibe flimmerte. Ich saß mit meinen Großeltern auf dem Sofa und hatte nicht die leiseste Ahnung, was eigentlich vor sich ging. Warum sahen sie zusammen mit 20 Millionen Deutschen, einem Drittel der Bevölkerung der alten Bundesrepublik, jenem dauergutgelaunten Männlein zu, der wie ein aufgedrehter Duracell-Hase durch die Kulisse sprang?
Rosenthal stellte jeweils zwei Personen Fragen, die diese unter Zeitdruck abwechselnd beantworten mussten. Er spornte sie zu Geschicklichkeitsübungen an, hetzte sie durch einen Parcours, zeigte ihnen Ausschnitte von Fotos, auf denen sie Gesichter oder Gegenstände erkennen mussten. Immer war Hektik im Spiel, Tempo. Ständig rief Rosenthal Dalli Dalli und schien selbst nie zur Ruhe zu kommen.
Er war der populärste deutsche Moderator. »Hänschen« nannten ihn seine Verehrer liebevoll.
Dalli Dalli – ein »Quiz für Schnelldenker« hatte er nach den Vorgaben des ZDF erfunden. Es musste pure Unterhaltung sein, frei von jeglicher Wissensvermittlung und jeglichem Anspruch, weder anstößig noch politisch – und nur deutschsprachige Gäste durften auftreten. Jahre später, als ich politisch zu denken begann, fand ich Dalli Dalli plötzlich ebenso banal und leer wie die heutige Ramsch-Ware auf den Wühltischen der TV-Unterhaltung.
Was Rosenthal allerdings von den Pilawas und Jauchs unterschied, war seine Geschichte, die die Mehrheit der Fernsehzuschauer zwar nicht kannte, die ihn aber mit dem Publikum unsichtbar verband. »Hänschen« Rosenthal, wie ihn seine Verehrer liebevoll nannten, dem beliebtesten Fernsehunterhalter Deutschlands, ging es nicht um Ruhm, Geld, Einfluss oder gar Macht. Schon kurz nach Kriegsende sei er zum Rundfunk gegangen, erzählte er, weil er eine Botschaft hatte: »Du musst den Menschen durch deine Existenz, durch das, was du tust, zeigen, dass jüdische Menschen genauso sind wie alle anderen.«
Rosenthal sagte »jüdische Menschen«. »Jude« hatte sich ihm so sehr als Schimpfwort eingebrannt, dass er es nicht aussprechen mochte. Leichter fielen ihm Sätze wie: »Ich bin genauso Deutscher wie jeder andere, das besagt nicht, dass ich das Land Israel nicht mit Wohlwollen betrachte.«
autobiografie Als der Satz fiel, war Dalli Dalli schon zehn Jahre alt. Die Fernsehserie Holocaust hatte die Selbstzufriedenheit der Deutschen einem Stresstest ausgesetzt. Es war der Moment, als Hans Rosenthal wagte, aus der Rolle des Dauergutgelaunten herauszutreten und Zwei Leben in Deutschland zu schreiben, seine Autobiografie.
Rosenthals erstes Leben endete im April 1945, als ihn die Rote Armee aus einer Berliner Gartenlaube befreite, in der er die Schoa überlebt hatte – als Einziger seiner Familie. Die Eltern waren vor der drohenden Deportation gestorben, der jüngere Bruder Gert nach Riga deportiert und ermordet worden. Hans entging der Deportation, weil er jedes Mal zufällig nicht vor Ort war, als die Gestapo kam, nicht im jüdischen Waisenhaus, in dem er mit dem Bruder lebte, nicht in der Fabrik, in der er Zwangsarbeit leistete.
Ab 1943 versteckte er sich in der Laube einer nichtjüdischen Freundin der Familie – und überlebte. »Wissen Sie, ich habe in der schlimmsten Zeit auch das gute Deutschland kennengelernt«, erinnerte er sich später.
westfalen Als Kind konnte ich nicht entziffern, was meine Großeltern an diesem Fernsehhelden fesselte. Als ich später seine Geschichte kannte, mochte ich Rosenthal nicht verzeihen, dass er Millionen »Arier« bespaßte, die mindestens weggesehen hatten, als man seine Familie umbrachte. So wie ich nicht akzeptieren mochte, dass meine Großmutter in der westfälischen Kleinstadt, aus der man ihre Eltern deportiert hatte, weiter fleißig Hände schüttelte. Meine Großmutter, die in demselben Monat, in dem Hans Rosenthal aus seiner Laube ins Freie trat, von den Amerikanern befreit wurde.
Doch genau das war die Faszination, die Rosenthal auf die deutschen Juden ausübte. Mit seiner Ratesendung und den sensationellen Einschaltquoten stieg ein »jüdischer Mensch« zum Publikumsliebling der Deutschen auf. Auch nach Erscheinen seiner Autobiografie erkannten nur wenige, dass hier ein Überlebender der Schoa den Mehrheits-Deutschen die Hand zur Versöhnung ausstreckte. Dass er im Direktorium der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und im Zentralrat der Juden saß, war schlicht kein Thema. Niemand sprach darüber, auch er selbst nicht. Erst als er 1983 bei Dalli Dalli zu Protesten gegen ein Kameradschaftstreffen der SS aufrief, bekam das ZDF Schmähbriefe gegen den »Judenlümmel«.
Hans Rosenthal war das »Role Model«, das Vorbild, derjenigen Juden, die nicht nur in Deutschland geblieben oder zurückgekehrt waren, sondern die sich auch weigerten, das Klischee von den »gepackten Koffern«, auf denen man sitze, zu bemühen, immer auf dem Sprung, bereit nach Israel oder in die USA zu gehen. Deutsche Juden, für die der Rest der jüdischen Welt damals nur Kopfschütteln übrig hatte.
ehrungen Rosenthal, der noch im Alter aktive Fußballer, Präsident des Fußballvereins Tennis Borussia Berlin, der mit Publikumspreisen und staatlichen Ehrungen überhäufte Spaßvogel, behauptete ständig: »Ich bin ein glücklicher Mensch.« Dieses fröhliche »Hänschen« zeigte der Welt, dass ein Jude in Deutschland leben, Kinder bekommen, arbeiten, Erfolg haben und geachtet werden konnte. Nie wieder nach Rosenthals frühem Tod gab es unter deutschen Juden so wenig Zweifel daran.
Das Wort »Jude« konnte er, der Überlebende, nach der Schoa nicht mehr aussprechen.
Seit 34 Jahren lebt Hans Rosenthal nun nicht mehr. Vermutlich werden sich nur noch wenige Juden heute an ihn erinnern. Machen wir also eine Zeitreise!
Was würde @hansrosenthal seinen Millionen Followern twittern? Womöglich wäre er ähnlich aufgeregt wie im Fernsehen, aber kaum so dünnhäutig und aufbrausend wie viele, die heute einen schier aussichtslosen Kampf gegen Judenhass im Netz führen. Verletzlich, das wäre auch er, aber kaum so leicht zu provozieren.
Wie würde er reagieren, wenn man ihm unter #Feigenblatt vorwerfen würde, den Judenhass durch seine eindringlichen Bekenntnisse zu Deutschland zu maskieren? Oder hätte er heute eine größere Distanz zum »guten Deutschland« seiner Zeit? Fakt ist, dass er in den 80er-Jahren den Bundesinnenminister aufforderte, antisemitischer Hetze mit härteren Gesetzen zu begegnen.
israel Sicher wäre Hans Rosenthal einer der Ersten gewesen, der am 27. Januar im Deutschen Bundestag gesprochen hätte, hätte es den Gedenktag zu seinen Lebzeiten schon gegeben. Der Sender Phoenix hätte mit der Übertragung die beste Einschaltquote seiner Geschichte erzielt.
Zu Israel würde sich @hansrosenthal ohne Wenn und Aber bekennen. Vielleicht wäre er genau der populäre, über jeden Zweifel erhabene Botschafter, der fehlt. Der Israel unaufgeregt erklärt und trotzdem betont: »Ich bin kein israelischer Staatsbürger.« Und keiner wäre jedenfalls geeigneter als Schirmherr von »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« als Hans Rosenthal.
Danke, Hänschen, dass du Deutschland wieder für uns in Besitz genommen, dich in den Wohnzimmern und Herzen breitgemacht hast. Ja, das ist Kitsch genau von der Art, die du gemocht hast. »Der ist auch a Jid.« Das vielsagende Schweigen meiner Großmutter höre ich noch heute.