Auch wenn es Nutzer deutscher Medien erstaunen mag: Die Israelis sind nicht Tag und Nacht mit dem Nahostkonflikt beschäftigt. Oberinspektor Avi Avraham von der Kriminalpolizei in Holon vermutet deshalb bei dem Bombenkoffer, der frühmorgens vor einem Kindergarten in der südlich von Tel Aviv gelegenen Industriestadt abgestellt wurde, auch keinen politischen Hintergrund. Den oder die Täter sucht er nicht im palästinensischen Terroristenmilieu, sondern im persönlichen Umfeld des Kindergartens und seiner Leiterin Chava Cohen.
Aber wer hat den Sprengsatz – von dem sich bald herausstellt, dass er nur eine Attrappe war, – deponiert? War es der Kleinkriminelle Amos Usen, der nahe des Tatorts gesehen wurde und sich beim Verhör in Widersprüche verstrickt? Aber was wäre sein Motiv?
Schläge Oder könnten es Eltern sein, die mit Chava Cohen Streit hatten, weil diese angeblich die ihr anvertrauten Kinder misshandelt? Chaim Sara zum Beispiel. Der 57-jährige späte Vater zweier kleiner Jungen hatte am Tag vor dem Kofferfund eine lautstarke Auseinandersetzung mit Cohen gehabt, nachdem er bei seinem Sohn Schalom Spuren von Schlägen entdeckt hatte, die der sich im Kindergarten zugezogen hatte. Und was ist mit der jungen Betreuerin, der kurz vor dem Vorfall von Chava Cohen gekündigt worden war?
Keine der Spuren führt zunächst weiter. Die Verdachtsmomente sind vage und widersprüchlich. Chava Cohen mauert, weiß angeblich nichts. Aber Avi Avraham will bei seinen Ermittlungen keine Möglichkeit ausschließen. Diesmal nicht – nachdem er seinen vorherigen Fall fast in den Sand gesetzt hätte. Es ist seine erste Ermittlung seitdem, und er ist von seinem damaligen Versagen noch traumatisiert. Als auf die Bombenattrappe ein Drohanruf bei Chava Cohen folgt und die Kindergärtnerin dann nachts auf einem Parkplatz am Strand mit einem Felsbrocken fast totgeschlagen wird, beginnt der Inspektor, an sich zu zweifeln.
Zumal ihm auch Chaim Sara innerlich keine Ruhe lässt. Irgendetwas stimmt mit dem Kleinunternehmer nicht, das sagt ihm sein Bauchgefühl. Warum ist die Mutter der Jungen, Saras wesentlich jüngere philippinische Ehefrau, seit Wochen nicht zu Hause gewesen? Ist sie wirklich, wie ihr Mann dem Inspektor und seinen Kindern erzählt, zu einem Familienbesuch in ihr Heimatland geflogen?
Dror Mishanis zweiter Krimi ist kein Reißer. Die Spannung baut sich langsam, dräuend und dabei sukzessive immer beklemmender auf. Es liegt eine Atmosphäre von Traurigkeit über dem Buch. Alle Protagonisten sind auf ihre Weise beschädigt, Opfer, Täter und Ermittler. Wie schon in Mishanis erstem Roman Vermisst sind seine Figuren verstrickt in ihre eigenen Unzulänglichkeiten. Das Böse kommt beiläufig daher als kleine, stille, mörderische Tragödie.
Psychologisch Dror Mishani, geboren 1975, ist Literaturdozent an der Universität Tel Aviv, wo er sich auf Kriminalliteratur spezialisiert hat. Entgegen George Bernard Shaws Diktum, wonach, wer etwas kann, es tut, wer es nicht kann, es lehrt, ist Die Möglichkeit eines Verbrechens, wie schon vorher Vermisst, ein gelungener psychologischer Spannungsroman, der in Stil, Atmosphäre und Tempo an George Simenons Maigret-Romane erinnert.
Nicht zufällig hat Mishani kleine Reverenzen an Simenon eingebaut – Brüssel kommt am Rande vor, ebenso eine Tabakspfeife. Wie Maigret soll auch Avi Avraham Protagonist einer ganzen Serie werden. Der dritte Roman der Reihe, HaIsh sheratza ladaat hakol (englisch: The Man who wanted to know) ist vor Kurzem in Israel erschienen.
Dror Mishani: »Die Möglichkeit eines Verbrechens. Avi Avraham ermittelt«. Zsolnay, Wien 2015, 336 S., 19,90 €