Mit dem Synagogen-Bauboom in Deutschland, der Ende des 19. Jahrhundert einsetzte, wurden die Silhouetten vieler deutscher Städte um die Konturen von großen, monumentalen Prachtsynagogen bereichert. Die Frage, in welchem Stil eine deutsche Synagoge gebaut werden soll, stellte sich damals schon so dringend wie heute, da Deutschland abermals einen Synagogenboom erlebt. Wenn auch die wenigsten Neubauten das jeweilige Stadtbild prägen, so sind doch viele ausgezeichnete Architekturen darunter, wie zuletzt Manuel Herz’ neue Synagoge in Mainz.
Die als »größte Synagoge Europas« intendierte Mole Antonelliana in Turin war 1889 das herausstechendste Beispiel für einen jüdischen Tempel, der sich fast 170 Meter hoch über die Silhouette der Stadt erheben sollte. Die Talmud-Vorgabe, dass die Synagoge stets das höchste Bauwerk am Ort sein soll, hatte der Architekt Alessandro Antonelli allzu wörtlich genommen und schoss – mit den aufkommenden Mitteln industriellen Bauens – über sein Ziel, »patriotische Grandeur und exotische Schönheit« miteinander zu verbinden, weit hinaus. Der Turm der Mole, höher als der Kölner Dom, dient heute als italienisches Filmmuseum.
Der neuerliche Bauboom in Deutschland kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch immer ungenutzte Synagogen in deutschen Städten verfallen und abgerissen werden. Mit dem Holocaust sind in allzu vielen Fällen nicht nur die kompletten Gemeinden ausgelöscht oder in die Flucht getrieben worden, sondern mit ihnen auch alle Zeitzeugen, Bauherren und Architekten, die Auskunft über die Architekturen geben könnten. Deshalb bewegen sich Bauhistoriker, die sich mit der Bautradition der jüdischen Tempel in Deutschland beschäftigen, auf einem weitgehend unbestellten Acker.
verdienstvoll Eine löbliche Ausnahme bildet die »Bet Tfila – Forschungsstelle für jüdische Architektur« der Technischen Universität Braunschweig, eine europaweit wohl einmalige Institution. Seit 20 Jahren arbeiten hier Wissenschaftler sehr verdienstvoll am Thema der Baukunst für jüdische Institutionen in Deutschland.
Auf ihrer zweiten internationalen Konferenz gelang es den Bauhistorikern gemeinsam mit ihren Partnern der Hebräischen Universität Jerusalem, Experten aus 14 Ländern in Braunschweig zu versammeln, um sich über den neuesten Stand der Forschung zum Thema auszutauschen: Von deprimierenden Fällen wie der geplanten Verfrachtung einer mittelalterlichen Synagoge in Allersheim/Franken in ein kontextloses Freilichtmuseum, über Details der historischen Gestaltung von Bima und Aron Hakodesch (Toraschrein), bis zu Orgeln in Synagogen oder der Baugeschichte der Mikwaot wurden viele interessante Details beleuchtet.
Die beiden Gretchenfragen (»Gibt es eine explizit jüdische Architektur überhaupt?« und »Was lehrt die Baugeschichte für die Zukunft der Gestaltung von Synagogen in Deutschland?«) vermied die Tagung leider. Jüdische Architektur war für die Bet-Tfila-Konferenz gleichbedeutend mit Synagogenbau.
Mittelweg Das Spannungsfeld, in dem sich Synagogenarchitektur in Mitteleuropa heute wie vor 100 Jahren bewegt, illustriert kein Gebäude eindrücklicher als die Dresdner Synagoge von 1840 des nichtjüdischen Architekten Gottfried Semper: Außen im neo-romanischen und damit kirchenartigen Stil gestaltet, entfaltete das Gotteshaus im Inneren ein wahres Feuerwerk »maurischer« Interieurs und »orientalischer« Ausstattungsdetails.
Ebenso wie Zacharias Frankels rabbinische Lehren, die hier ihren Ausgangspunkt nahmen, so beschritt auch die Architektur unbekümmert einen »Mittelweg« zwischen der örtlichen Baukunst und einem religiösen Sehnsuchts- und Referenzstil. Synagogenarchitektur in Deutschland pendelte also schon vor 150 Jahren zwischen gestalterischer Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft und einer eigenen, ausgeprägt »exotischen« architektonischen Identität.
Edwin Oppler, Architekt der Hauptsynagoge in Hannover, lehnte den maurischen Stil als »nicht adäquat für Synagogen in Deutschland« ab und gab so den Takt für eine bürgerliche Metamorphose in der jüdischen Sakralarchitektur in Deutschland vor, die bis heute wirkt.
Der semitische Bezug zu Andalusien stand plötzlich nicht mehr für eine (wieder anzustrebende) »Harmonie unter Christen, Juden und Muslimen«, wie sie einst um die Alhambra in Granada herum geherrscht haben soll. Der Orientalismus war nun als bloße Variante des Historismus entlarvt, wie Annette Weber von der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS) darstellte.
Noch vor der Jahrhundertwende wurden jüdische Architekten wie Dankmar Adler und Albert Kahn in den USA oder Peter Behrens in Deutschland zu den Gründungsvätern der modernen Architektur in der alten und der neuen Welt. Der Bautypus der Synagoge wandelte sich zugleich immer mehr vom »Bet Tfila« zur multifunktionalen »Knesset«, in der sekundäre soziale Funktionen für die Gemeinde im Vordergrund standen.
stadtbild Es gibt zwar einen ausgeprägten und erfreulichen Trend zum neuen Mut im Ausdruck bei der Architektur für jüdische Institutionen in Deutschland, aber stadtbildprägende Wirkung bekommen neue Synagogen hierzulande ebenso selten wie in Israels Städten. In Wien beschäftigt sich Bob Martens von der örtlichen Technischen Universität deshalb mit »virtuellen Rekonstruktionen« der Massen an Synagogen, die die Architekten Fleischer, Gartner und Stiassny im Österreich des Fin de Siècle und auf dem Balkan entwarfen. Martens rekonstruiert diese Gebäude nicht nur sehr detailgetreu im Computer, bisweilen projiziert er sogar in situ die historischen Synagogenfronten auf die modernen Fassaden der Gebäude, die heute an ihrer Stelle stehen – und verblüfft damit die Stadtöffentlichkeit. Sein »digitales Lego«, wie er es nennt, füllt die wachsende Lücke in der kollektiven Erinnerung unserer Städte eindrucksvoll.
Der deutsch-amerikanische Kunsthistoriker Richard Krautheimer brachte es schon 1927 auf die eingängige Formel, dass die jüdische Liturgie und die jeweilige Mode in der Kirchenarchitektur entscheidendere Einflussfaktoren für die chamäleonhafte Synagogenbauweise sind als eine etwaige Auffassung von »jüdischer Architektur«. Er unterstellte den Gemeinden als Bauherren ein Desinteresse an Ästhetik. Die rites de passage vom Mondänen zum Sakralen werden architektonisch in den meisten Synagogen der Welt erstaunlich wenig zelebriert – was zählt, ist der Text.