Es ist eine Geschichte von zweierlei Maß. Sobald eine Diskussion über den Nahostkonflikt beginnt, kommen sofort die palästinensischen Flüchtlinge zur Sprache. Allein über 160 UN-Resolutionen beschäftigen sich mit deren Schicksal. Und mit der United Nations Relief and Works Agency for Palestine gibt es sogar eine Flüchtlingshilfsorganisation mit 30.000 Mitarbeitern, die sich exklusiv um die Belange der Palästinenser kümmert.
Doch was in diesem Kontext meist ausgeblendet wird: Auch 850.000 Juden mussten nach 1948 fliehen, und zwar aus der gesamten arabischen Welt, aber auch aus dem Iran und Afghanistan. Nicht wenige von ihnen wurden aus genau den Ländern vertrieben, die auch heute noch den Palästinensern, die seit Jahrzehnten auf ihrem Territorium leben, die elementarsten Bürgerrechte verweigern.
Aber im Unterschied zu den Palästinensern war ihr unfreiwilliger Exodus total. Jüdische Gemeinden, die wie im Fall des Irak oder des Jemen auf eine mehr als 2000-jährige Geschichte zurückblicken konnten, existieren heute nicht mehr. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. In den ersten beiden Jahrzehnten nach der Gründung des Staates Israel verschwanden in der Region zwischen Marokko und dem Irak fast alle jüdischen Gemeinschaften. Lebten dort 1948 rund 850.000 Juden, so sind es heute nur noch wenige Tausend, die allermeisten davon in Marokko, einige wenige in Tunesien.
Bei dem Thema kann man deshalb auch von einer ethnischen Säuberung gigantischen Ausmaßes sprechen, die, wie es Richard Holbrooke, der ehemalige UN-Botschafter der USA, einmal formulierte, einfach »unter den persischen Teppich gekehrt wurde«. Und im Unterschied zu den Palästinensern erhielten die jüdischen Flüchtlinge aus dem Irak, dem Jemen oder Algerien weder Hilfe von der internationalen Gemeinschaft, noch wurden sie jemals für ihr geraubtes Eigentum entschädigt.
PGROME Ihre Vertreibung fand aber keinesfalls überall zur gleichen Zeit statt und lässt sich mit den Ereignissen des Jahres 1948 allein nicht erklären. Schließlich wurde die Situation für Juden bereits vorher schon immer prekärer.
So weiß der Historiker Nathan Weinstock, Autor des Buches Der zerrissene Faden – Wie die arabische Welt ihre Juden verlor 1947–1967, von zahlreichen Pogromen in der Region zu berichten, die kaum jemand auf dem Radar haben dürfte, beispielsweise 1912 im iranischen Shiraz und im marokkanischen Fez oder 1934 in der algerischen Stadt Constantine, bei denen Hunderte Menschen ihr Leben verloren.
Das bekannteste ist wohl der »Farhud«, das dreitägige Wüten eines Mobs in Bagdad im Jahr 1941, bei dem mehr als 150 Juden ermordet wurden. Diese Gewalt setzte sich nach 1948 im Irak fort. »Die ständige Verschlechterung der Lage der Juden und die Atmosphäre des Hasses, die sie umgab, führten zu einer Massenflucht aus dem Land«, so Weinstock. Der irakische Staat bereicherte sich an ihrem Vermögen – schließlich durfte man nur ein paar Habseligkeiten mitnehmen. Andere arabische Staaten verhielten sich kaum anders.
Die jüdischen Flüchtlinge erhielten nie Hilfe von der internationalen Gemeinschaft.
Während die Gründung Israels eindeutig als auslösender Faktor für die Vertreibung von Juden aus dem Irak, Libyen, Syrien oder dem Jemen auszumachen ist, so waren es für die Juden Ägyptens Ereignisse wie die Sinai-Krise im Jahr 1956 sowie der von Präsident Gamal Abdel Nasser propagierte Panarabismus als vorherrschende Ideologie, die ihr Schicksal bestimmen sollten. Der Prozess der Dekolonisierung, die Konstruktion arabischer Nationalmythen auf Kosten ethnischer und religiöser Minderheiten sowie das Aufkommen islamistischer Bewegungen wie der Muslimbrüder, die bereits in den 30er-Jahren einen radikalen Antisemitismus predigten und so etwas wie die geistigen Ziehväter der späteren Hamas waren, sorgten für einen Exodus von Juden aus allen arabischen Staaten, aber auch aus dem Iran oder Afghanistan, der sich über zwei Jahrzehnte hinzog.
NIEDERLAGE »Eine neue Militanz hatte um sich gegriffen und ließ keinen Platz für andere«, lautet dazu das Urteil des Islamwissenschaftlers Bernard Lewis. So war es in Algerien der Rückzug Frankreichs im Jahr 1962 nach über zehn Jahren Kolonialkrieg, der das Ende der jüdischen Gemeinden einleitete. In Marokko und Tunesien sollte es die Niederlage der arabischen Armeen im Sechstagekrieg 1967 sein, die zu staatlichen sanktionierten Ausschreitungen führte, woraufhin die noch verbliebenen Juden diese Länder fluchtartig verließen. Ihnen wurden »Sympathien mit dem Feind« vorgeworfen, ein hysterisierter Mob steckte die Große Synagoge in Tunis in Brand.
Viele Juden aus Nordafrika wählten Frankreich als neue Heimat. Die überwiegende Mehrheit zog es nach Israel. Das geschah weniger aus zionistischen Motiven heraus, sondern eher aufgrund einer religiösen Verbundenheit. Oder einfach nur deshalb, weil sie keine Alternative hatten.
Einmal dort angekommen, fanden sie ein sehr europäisch geprägtes Land vor, das wenig Respekt oder Interesse für ihre Kultur und Traditionen zeigte. Auch musste der junge jüdische Staat ihre Integration aus eigener Kraft stemmen, was angesichts der geringen Ressourcen nicht ohne gesellschaftliche Konflikte verlief, die bis heute nachhallen.
Seit 2014 gibt es daher in Israel einen Gedenktag, der an diesen von der übrigen Welt weitestgehend ignorierten Exodus erinnern soll. Es ist der 30. November – schließlich hatten am 29. November 1947 die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas beschlossen, woraufhin der Hass gegen Juden in der arabischen Welt eine neue Dimension annahm. Vor dem Hintergrund der Ereignisse des 7. Oktober hat dieser Gedenktag für viele Israelis eine besondere Bedeutung.