»Alle Nähe fern«

Der Höcker auf der Nase

André Herzbergs autobiografischer deutsch-jüdischer Familienroman

von Welf Grombacher  09.03.2015 18:37 Uhr

»Damit ich weiß, wer wir sind und wie wir waren«: André Herzberg Foto: Stephan Pramme

André Herzbergs autobiografischer deutsch-jüdischer Familienroman

von Welf Grombacher  09.03.2015 18:37 Uhr

Als André Herzberg ein Kind war, schleifte ihn seine Mutter immer in die Synagoge in der Berliner Rykestraße mit. »Da saßen zehn Figuren drin, und der Rabbiner stand irgendwo ganz weit vorne«, erinnert sich der Musiker. »Ich saß da mit meiner schrecklichen Baskenmütze, weil es keine Kippa gab in der DDR, und wusste überhaupt nicht, was zu machen ist.« Hebräisch beherrschte er nicht. »Das einzige Wort, was ich verstanden habe, war Auschwitz.«

Die jüdische Welt blieb Herzberg lange fremd. Erst mit dem Mauerfall änderte sich das, als er in New York war und eine Leuchtreklame »Happy Hanukkah« sah. »Da wurde mir das erste Mal bewusst, dass es noch etwas anderes gibt als diese sogenannte Nacht des Faschismus und meine traumatische Verbindung damit.«

deutschnational In seinem Roman mit dem etwas sperrigen Titel Alle Nähe fern setzt sich der 1955 in Ostberlin geborene Herzberg, der als Sänger der DDR-Rockgruppe »Pankow« bekannt wurde, jetzt mit seiner jüdischen Identität und seinen Wurzeln auseinander. Es ist ein sehr vielschichtiges Buch, in dem Herzberg über drei Generationen hinweg die Geschichte einer Familie und, quasi nebenbei, die eines ganzen Jahrhunderts erzählt. Ein Buch, das von einem ständig schwelenden Vater-Sohn-Konflikt berichtet, ebenso wie vom Leben als Künstler in einem autoritären System.

Die Saga beginnt um die vorige Jahrhundertwende mit Heinrich Zimmermann, der sich vom einfachen Lederhändler zum erfolgreichen Unternehmer emporarbeitet. Selbstbewusst geht er als deutscher Jude durchs Leben. Als er seine Frau kennenlernt, sagt er ihr nach wenigen Augenblicken: »Ich will mit dir schlafen.« Sie entgegnet nicht weniger selbstsicher: »Na, dann mach mal.«

Wie die meisten deutschen Juden seiner Zeit ist Heinrich Zimmermann ein glühender Patriot. Doch seine deutsch-nationale Gesinnung bekommt 1933 Risse. Als die Nazis in Hannover aufmarschieren, muss er sich mit seinem Sohn hinter verschlossenen Fensterläden verbarrikadieren. Dennoch bleibt er zunächst. Erst nachdem er schon eine »Schutzhaft« in Buchenwald hinter sich hat, entschließt Heinrich sich, das Land zu verlassen. Von seinen 740.260 Reichsmark Vermögen darf er pro mitreisendem Familienmitglied nur zehn Mark mitnehmen ins Exil nach Kuba und später New York.

kommunist Während Zimmermanns ältester Sohn Konrad nach Südafrika, und Tochter Gertrud nach Palästina geht, wird der jüngste Sohn Paul mit einem Kindertransport nach England verschickt. Zuvor hatte der Lehrer ihn im Rassekunde-Unterricht auf einen Tisch gestellt, um den Mitschülern am lebenden Beispiel zu erklären, wie ein Jude aussieht. In London wird Paul Mitglied der FDJ. Nach dem Krieg geht er im Auftrag der kommunistischen Partei zurück nach Deutschland, um seine Landsleute umzuerziehen. Bei der ostdeutschen Nachrichtenagentur ADN findet er als Journalist eine Stelle, heiratet, wird Vater. Jakob heißt der Sohn, dem die Mutter abends im Bett immer über die Nase streicht. »Der verräterische Höcker muss weg, es sollte wie eine Stupsnase aussehen, es soll mich doch keiner erkennen.«

Der Vater, der die Familie bald wegen einer anderen Frau sitzen lässt, hat dem kleinen Jakob nicht viel zu sagen. »Es sei denn, er erzählt ein Märchen oder von der Weltrevolution.« Doch der Junge ist sicher, dass es noch eine andere Welt gibt. Die findet er in der Musik. Er singt in einer Band. Eine Platte wird nicht genehmigt. Die Songs sollen, sagt der zuständige Funktionär, »optimistischer« werden. Erst als der Gitarrist der Band sich mit der Stasi einlässt, klappt es auch mit dem Plattenvertrag. Erste Erfolge stellen sich ein. Die aber haben ihren Preis. »Der Erfolg betäubt mein Gefühl, meinen Hass auf das System.« Immerhin, die Band darf zu Konzerten in den Westen reisen. »Der Wechsel der Welten wird zur Normalität.«

wende Als 1989 die Mauer fällt, ist der Erfolg vorbei. Ein Produzent sagt Jakob ins Gesicht, dass er jetzt nicht mehr angesagt ist. Einmal mehr wird der alte Witz Wirklichkeit: »Musiker sind wie die Sonne, gehen im Osten auf und im Westen unter.« Es folgen Stütze, Depression, Psychotherapie.

Wie bereits in seinem Erzählband Geschichten aus dem Bett (2000) und dem früheren Roman Mosaik (2005) spricht André Herzberg sehr offen über sein Musikerleben. Dass es sich oft um authentische Erlebnisse handelt, ist dem Roman anzumerken. Sonst wäre er nicht so überzeugend. Unschwer lässt sich Jakob Zimmermann als Alter Ego von Herzberg erkennen. Auch, wenn der Verfasser, darauf angesprochen, erwidert, dass es sich bei seinem Buch »natürlich um eine Mischung aus Erfahrenem oder Gehörtem und Fiktion« handle: »Ein Roman eben. Und in der Kunst gilt, besser gelogen als schlecht die Wahrheit erzählt.«

treffen Ein wenig muss man während der Lektüre an Reinhard Jirgls Die Stille (2009), vor allem aber Eugen Ruges sich ebenfalls über drei Generationen hinweg erstreckenden großen Familienroman In Zeiten des abnehmenden Lichtes (2012) denken, der auch von einem Vater-Sohn-Konflikt getrieben wird. Bei Herzberg dominiert jedoch der jüdische Aspekt, der dem Roman einen eigenen Dreh verleiht. Sicher, vieles hat man ähnlich schon gelesen. Weil das Buch aber einen eigenen Ton findet, nüchtern erzählt, ohne zu moralisieren, stört das nicht weiter.

Lange hat André Herzberg von einem großen Familientreffen geträumt. Es kam nie zustande, weil die Verwandtschaft nach der Schoa über die ganze Welt verstreut lebte, manche gestorben sind, oder die Söhne mit ihren autoritären Vätern nicht konnten. Mit seinem bewegenden Roman, der einen Bogen vom Kaiserreich über Nazideutschland und die DDR bis in die Gegenwart spannt, erfüllt sich Herzberg nun diesen Wunsch wenigstens literarisch und kehrt zurück in den Schoß seiner jüdischen Familie. »Ich werde die Geschichte aufschreiben, damit ich weiß, wer wir sind und wie wir waren, damit ich besser leben kann.«

André Herzberg: »Alle Nähe fern«. Roman. Ullstein, Berlin 2015, 272 S., 21 €

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