Theater

Der Gottesstaat ist nur einen Steinwurf entfernt

Sie: Professorin, 43 Jahre alt. Er: Student, 27. Ein leerer Platz, auf dem Boden liegen verstreut Steine, faustgroß. Eine Betonmauer versperrt die Sicht auf den Horizont, den eine blaue Linie teilt. In der Mauer sind Einschüsse zu sehen. »Viele Menschen wurden hier hingerichtet. So viele Menschen. Männer. Frauen. Jungen. Mädchen.« Davor ist sie, Laila, bis auf den verschleierten Kopf im Sand vergraben.

Wir befinden uns im Jahr 2012 in einem islamischen Land, in dem Ehebruch mit öffentlicher Steinigung geahndet wird. Laila wartet auf ihre Hinrichtung. Ihr junger Geliebter häuft Steine in einer Schubkarre an. Über der Hinrichtungsstätte hängt eine Überwachungskamera. Es ist Lailas letzte Stunde. 60 intime Minuten bleiben ihr und ihrem Geliebten, um ihre Beziehung noch einmal aufleben zu lassen und den Herrschenden wie dem Publikum die Frage der Schuld zu stellen. Wer hat verführt, wer hat ihre Beziehung verraten? Während er stoisch die Schubkarre füllt, verlangt sie Licht, bis er ihr den Fetzen vom Gesicht reißt und mit ihr spricht, sie anfleht und beschimpft.

Opferrolle Birte Schrein spielt die aufgeklärte Professorin souverän. Arne Lenk gibt den jungen Liebhaber – ungelenk, naiv, etwas feige und bis zuletzt hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seiner Lehrerin und der Hoffnung, sein eigenes Leben zu retten. »Du hast Gott gespielt; hast mich wie eine Spinne in dein Netz gezogen«, reklamiert er larmoyant die Opferrolle für sich. Er mimt den Gläubigen, will sich aus der Affäre ziehen. Laila, die ohnehin keine Hoffnung mehr hat, stachelt ihn an, sie zu verleumden.

Joshua Sobol, der immer wieder jüdische Sujets aufgreift und in Stücken wie Weiningers Nacht (1983) und Ghetto (1984) seine Motive kolportagehaft verfremdete, geht es in seinem Zweipersonenstück diesmal um den Horror in einem islamischen Gottesstaat. Während Regiearbeiten in Basel war der israelische Dramatiker im Sommer 2008 auf die Geschichte eines 13-jährigen Mädchens gestoßen, das in Somalia von drei Männern vergewaltigt und mit einem von ihnen in einer Blitz-Zeremonie zur »temporären Ehe« gezwungen wurde. In der Folge wurde sie des Ehebruchs beschuldigt, ein Schariagericht verurteilte sie zum Tod durch Steinigung.

beziehungsstruktur Dass ein gebildetes westliches Theaterpublikum derartige Praktiken ablehnt, setzen sowohl Sobol wie auch Regisseur David Mouchtar-Samorai in der Bonner Inszenierung voraus. Verfolgt wird primär die Beziehungsstruktur zwischen der starken Frau und dem jungen Mann. Laila ist eine gebildete und selbstbestimmte Frauenfigur, die sich den gesellschaftlichen Normen widersetzt und ihre Bedürfnisse lebt: »Ihr wisst nicht, mit meiner Lebenslust umzugehen.« Liegt darin, dass die Zuschauer mehr über die Beziehung als über die gesellschaftlichen Verhältnisse nachdenken, die Raffinesse des Stücks?

Der Gefahr, zu eindeutige moralische Urteile zu provozieren, zu pädagogisch zu wirken, entkommt die Bonner Inszenierung leider nicht. Der ungleiche Dialog des Liebespaars im »orientalischen« Szenario wirkt aufgesetzt, oft hat man den Eindruck, der Auseinandersetzung zweier westlich sozialisierter Menschen zu folgen. Kritik, auf die Sobol bereits im Herbst 2008, als er das Stück schrieb, gefasst war. Wieso ausgerechnet er, als weißer israelischer Aschkenasi, beurteilen könne, wie eine somalische oder iranische Frau denke? »Laila ist ein Mensch wie ich. (...) Sie las die Bücher, die ich in meiner Jugend gelesen hatte. Alles, was ihr widerfuhr, könnte mir oder jedem, den ich kenne, geschehen, wenn mein Land von fundamentalistischen Orthodoxen übernommen würde.«

Joshua Sobol: »Sünder/Sinners«. Werkstattbühne des Schauspiels Bonn. Nächste Aufführungen: 2., 10., 16., 29. November, jeweils 20 Uhr

www.theater-bonn.de

Interview

»Wir stehen hinter jedem Film, aber nicht hinter jeder Aussage«

Das jüdische Filmfestival »Yesh!« in Zürich begeht diese Woche seine 10. Ausgabe, aber den Organisatoren ist kaum zum Feiern zumute. Ein Gespräch mit Festivaldirektor Michel Rappaport über den 7. Oktober und Filme, die man zeigen soll

von Nicole Dreyfus  07.11.2024

Kino

Die musikalische Vielfalt vor der Schoa

Ein Musikfilm der anderen Art startet zu einem symbolträchtigen Datum

von Eva Krafczyk  07.11.2024

Kultur

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 7. November bis zum 17. November

 07.11.2024

Schoa

»Warum hat er uns das nie erzählt?«

Was geschieht, wenn eine jüdische Familie ein lange verschlossenes Kapitel der Vergangenheit öffnet

von Mascha Malburg  07.11.2024

Kolumne

Mit Skibrille zur Vernissage

Warum sich das örtliche Kunstmuseum einer mittelgroßen Stadt in Deutschland kaum von der documenta unterscheidet

von Eugen El  07.11.2024

Kultur und Unterhaltung

Sehen, Hören, Hingehen

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 31. Oktober bis zum 7. November

 07.11.2024

Literatur

»Schwarze Listen sind barbarisch«

Der Schriftsteller Etgar Keret über Boykottaufrufe von Autoren gegen israelische Verlage, den Gaza-Krieg und einseitige Empathie

von Ayala Goldmann  07.11.2024

Sehen!

»I Dance, But My Heart Is Crying«

Die Plattenlabels Semer und Lukraphon veröffentlichten noch bis 1938 Musik von jüdischen Künstlern – davon erzählt ein neuer Kinofilm

von Daniel Urban  07.11.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Sukka-Fishing oder Sechs Stunden täglich auf dem Hometrainer

von Margalit Edelstein  06.11.2024