Meir Shalev

»Der Geruch von Omas Essen«

»Ich schreibe keine Bücher mit politischer Agenda«: Meir Shalev Foto: Christian Rudnik

Herr Shalev, Sie waren gerade auf Lesereise durch Deutschland. Wurden Sie in Interviews primär nach Ihrem neuen Buch gefragt oder mehr nach der politischen Entwicklung?
Nach Politik, das ist unvermeidlich.

Nervt Sie das nicht?
Nein, ich kenne die Spielregeln (lacht), es ist in Ordnung.

Dabei verstehen Sie sich gar nicht als politischer Schriftsteller.
Ich bin ein politischer Mensch, aber kein politischer Schriftsteller. Ich möchte meine Literatur nicht durch Politik bewerben und umgekehrt. Es gibt israelische Autoren, die politischer sind als ich.

Sie spielen auf Kollegen wie David Grossman oder Amos Oz an.
Ja, aber das ist ihre Sache, ich kritisiere es nicht. Ich möchte nur nicht an diesem Spiel teilnehmen.

Das heißt, Sie trennen Politik und Literatur?
Ja, aber nicht bewusst. Ich mag es einfach nicht, einen Roman zu lesen oder zu schreiben, der eine Agenda hat, zum Beispiel die Liebesgeschichte zwischen einem israelischen Armeeoffizier und einem palästinensischen Mädchen. Außerdem halte ich es für ein Missverständnis, dass Schriftsteller ein besseres politisches Verständnis haben. Wir können uns vielleicht besser ausdrücken. Das heißt aber nicht, dass wir recht haben.

Und doch werden Ihre Bücher stets auch politisch interpretiert.
Ja, sogar jetzt. Eine belgische Journalistin fragte mich, ob meine Heldin, die Oma, die in den 20er-Jahren aus Russland mit einem Staubsauger nach Palästina kommt, nicht eine ethnische Säuberung repräsentiert. Können Sie sich das vorstellen? Ich habe der Dame geantwortet, dass sie vergessen hat, dass der Staubsauger aus Amerika stammte, also imperialistisch-kapitalistisches Denken dahintersteckt.

Vielleicht ist das unvermeidlich, wenn man Israeli ist. Wäre es Ihnen lieber, nicht aus einem so »problematischen« Land zu kommen?
Nein, ich mag es, in Israel zu leben, ich mag es, Teil dieser langen Schreibtradition zu sein. Die hebräische Sprache ist ein Wunder – du kannst 3.000 Jahre alte Texte lesen und verstehen. Wenn Leute mich fragen: Bist du ein israelischer oder ein jüdischer Schriftsteller, antworte ich: Ich bin ein hebräischer Schriftsteller.

Ihr Buch spielt in den 20er-Jahren, ist aber auf gewisse Weise hochaktuell. Seit dem Ende der Sowjetunion sindeine Million Juden von dort nach Israel eingewandert.
Als die vor 20 Jahren begannen, massenhaft nach Israel zu kommen, hörte ich plötzlich den Akzent meiner Großmutter in den Straßen, roch ihr Essen. Oft sagen mir russischen Lesern: Für uns bist du ein russischer Autor. Ich sehe das als Kompliment an.

Politisch nahe stehen Ihnen die meisten aber nicht.
Viele dieser Neuisraelis sind politisch rechts orientiert und haben für Avigdor Lieberman gestimmt, der jetzt Außenminister ist. Lieberman gefährdet Israel. Er würde gerne alle Araber rausschmeißen, die besetzten Gebiete behalten – schreckliche Träume eines Politikers, die ich auf keinen Fall wahr werden sehen möchte. Aber man darf Lieberman nicht den Einwanderern aus Russland anlasten. Er ist für sie nicht repräsentativ. Liebermans können in jeder ethnischen Gruppe auftauchen. Auf lange Sicht sind die russischen Immigranten eine gute Sache.

Weil sie den Anteil der Nicht-Religiösen in der Bevölkerung erhöhen?
Ja. Der Einfluss der Religion auf den Staat ist gefährlicher als der Einfluss der rechts gerichteten Teile der russischen Immigranten. Die Rechten äußern wenigstens ihre politische Meinung, und nicht die eines Gottes oder etwas anderes Irrationales. Ich will eine Trennung von Staat und Religion. Der Staat sollte sich nicht in religiöse Lebensweisen einmischen, und umgekehrt sollte Religion sich aus der Politik heraushalten.

Damit stellen Sie das Konzept Israels als jüdisch definierter Staat infrage.
Die Idee eines jüdischen Staates habe ich nie unterstützt. Wenn man von einem jüdischen Staat spricht, ist das, als würde man von einem islamischen Staat sprechen, das bedeutet: ein religiöser Staat. Ich unterstütze die Idee eines Staates für das jüdische Volk, was eine komplett andere Angelegenheit ist.

Wobei das jüdische Volk Gefahr läuft, demografisch zur Minderheit im eigenen Land zu werden.
Das kann und wird passieren, wenn wir die besetzten Gebiete nicht zurückgeben. Darum unterstütze ich eine friedliche Zwei-Staatenlösung, auch wenn die immer weniger wahrscheinlich wird. Seit dem Sechstagekrieg 1967 investiert Israel alles Geld, alle Macht und Kraft in die besetzten Gebiete. Wir haben nicht genug für das Gesundheitssystem, Ausbildung und neue Straßen. Und wir haben einen Premiermi-nister, dem jegliche Fähigkeit abgeht, sich als solcher zu verhalten. Führung hat mit Vision zu tun, damit, eine Vorstellung davon zu haben, wie die Dinge in zehn Jahren sein sollen. Netanjahu hat so etwas nicht. Er und seine Koalition hangeln sich von Tag zu Tag. Wenn Netanjahu wenigstens sagen würde: Mein Traum ist es, die besetzten Gebiete in den Händen Israels zu behalten. Oder aber verhandeln würde. Er macht keines von beiden.

Kann sich durch die Revolten in den arabischen Nachbarländern an der Lage etwas ändern?
Ich hoffe, dass diese Entwicklungen die Geburt von Demokratien markieren. Ich fürchte aber, dass die islamischen Parteien machtvoll werden, weil sie organisiert sind und weil wir eine Zeit der Verwirrung erleben. Deshalb setze ich auf junge Menschen, die mehr wissen über westliche Demokratie. Das würde eine bessere Verbindung zu Is-rael schaffen – und Israel zwingen, demokratischer zu werden. Wir reden immer von uns als der einzigen Demokratie im Nahen Osten. Das trifft nur für das israelische Kernland zu, nicht auf die Gebiete.

Gerade haben Hamas und Fatah sich versöhnt. Israel will deshalb mit der Autonomiebehörde nicht mehr reden. Sie dagegen haben schon 1997 gefordert, mit der Hamas zu verhandeln.
Sicher. Mit Freunden muss man das nicht, sondern mit Feinden, per Definition. Ich hätte auch lieber einen anderen Feind, säkularer, weniger fanatisch, der mein Existenzrecht akzeptiert. Aber trotzdem sollten wir verhandeln. Im schlimmsten Fall scheitern die Verhandlungen.

Das Gespräch führte Lea Hampel.


Meir Shalev wurde 1948 im Moschaw Nahalal nahe Nazareth geboren. Er arbeitete als Radio- und TV-Moderator, bevor 1988 sein erstes Buch »Ein russischer Roman« erschien. Es folgten fünf weitere Romane, fünf Kinderbücher sowie der biblische Erzählungsband »Der Sündenfall – ein Glücksfall?« Shalev, der mit seiner Familie im Jezreel-Tal und in Jerusalem lebt, gehört zu den meistgelesenen israelischen Autoren und erhielt für seine Bücher zahlreiche Auszeichnungen. In seinem neuesten Werk »Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger« (Diogenes, Zürich 2011, 288 S., 20,90 €) erzählt er Anekdoten aus dem Leben seiner Einwandererfamilie im Palästina der 20er-Jahre.

Programm

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