Lange Jahre wohnte der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Gustav-Freytag-Straße. Ihm selbst war das immer ein bisschen unangenehm. Ausgerechnet jener Gustav Freytag, der mit stereotypen Figuren wie dem Veitel Itzig aus Soll und Haben oder dem Schmock aus Die Journalisten, die in einer Reihe mit Veit Harlans Jud Süß stehen, den Judenhass beförderte.
Im 19. Jahrhundert war Freytag in Deutschland der meistgelesene Schriftsteller. Heute kennen ihn fast nur noch Germanisten, was nicht zuletzt an seinem schlechten Ruf liegen mag. Als der Regisseur Rainer Werner Fassbinder 1977 für den WDR eine mehrteilige Fernsehverfilmung von Soll und Haben plante, gab es heftige Debatten mit Überlebenden des Holocaust, und das Projekt scheiterte.
»Aber Gustav Freytag war kein Antisemit«, schreibt der 1939 in Danzig geborene Bernt Ture von zur Mühlen in seiner rechtzeitig zum 200. Geburtstag Freytags erschienenen Biografie. Er habe lediglich die antisemitischen Klischees seiner Zeit bedient. In reiferen Jahren habe er eine Kehrtwende vollzogen: »Als eine der wenigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hat er Stellung gegen jede Art von Antisemitismus bezogen.« Seine Antwort auf Richard Wagners Schmähschrift Das Judenthum in der Musik sei 1869 ein lautstarker Appell gegen Antisemitismus und für ein gleichberechtigtes Zusammenleben mit den Juden in Deutschland gewesen.
rEHABILITIERUNG Von zur Mühlens Buch ist der Versuch einer Rehabilitierung, der den im literaturwissenschaftlichen Betrieb zur Unperson gewordenen Gustav Freytag vor dem Vergessen bewahren will.
Am 13. Juli 1816 im schlesischen Kreuzburg als Sohn eines Arztes geboren, studierte Freytag Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, promovierte bei dem berühmten Mediävisten Karl Lachmann und arbeitete kurz an Wilhelm Grimms Deutschem Wörterbuch mit, bevor er erste Theaterstücke wie Die Brautfahrt (1840) oder Die Valentine (1847) schrieb.
Sein Lustspiel Die Journalisten war zu seinen Lebzeiten die meistgespielte Komödie auf deutschen Bühnen. Sein Roman Soll und Haben erschien in seinem Todesjahr in der 43. Auflage. Als Patriot und Herausgeber der Zeitschrift »Die Grenzboten« kämpfte er für ein vereinigtes Deutschland unter Führung Preußens. Zwischen 1848 und 1870 veröffentlichte er 800 Artikel.
Selbstdisziplin »Für Gustav Freytag war ein Leben in Vaterlandsliebe und Pflichterfüllung, Arbeit und Unterordnung, Selbstdisziplin und Sparsamkeit das höchste moralische Gebot eines jeden Bürgers«, schreibt von zur Mühlen, der mit eben derselben Gewissenhaftigkeit an seine Biografie gegangen ist. Manchmal wünscht man sich ein bisschen weniger Akribie und dafür die eine oder andere Anekdote. Das aber nur am Rande.
Dass Freytag im 1855 erschienenen Roman Soll und Haben die Juden mit antisemitischen Stereotypen ausstattete, hätten »die meisten Kritiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht für problematisierenswert gehalten«, schreibt er. Die 1893 erschienene Flugschrift Ueber den Antisemitismus. Eine Pfingstbetrachtung, in der er jede Art von Antisemitismus verurteilte, sei ein klares Indiz für die Läuterung des Schriftstellers, der in dritter Ehe mit der 30 Jahre jüngeren Anna Strakosch eine Jüdin heiratete.
Das meiste, was Bernt Ture von zur Mühlen schreibt, lässt sich nachvollziehen. Ob allerdings einzig der Antisemitismusvorwurf schuld daran ist, dass der Autor in Vergessenheit geraten ist, mag man anzweifeln. Nicht von ungefähr höhnte schon der Kollege Franz Grillparzer über den Vielschreiber Gustav Freytag in einem Vierzeiler über Soll und Haben: »Daß die Poesie Arbeit, / Ist leider eine Wahrheit. / Doch daß die Arbeit Poesie, / Glaub ich nun und nie.«
Bernt Ture von zur Mühlen: »Gustav Freytag«. Biografie. Wallstein, Göttingen 2016, 272 S., 24,90 €