Caroline Link ist eine der erfolgreichsten Regisseurinnen Deutschlands. »Nirgendwo ist Afrika« hat ihr den Oscar gebracht. Vergangenes Jahr gelang ihr mit »Der Junge muss an die frische Luft« ein grandioser Kino-Publikumserfolg. Mit »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« erzählt sie nun wieder die Überlebensgeschichte eines Kindes. Mit der Jüdischen Allgemeinen sprach die Filmemacherin über Vergangenheitsbewältigung in der eigenen Familie, was sie am Judentum interessiert und den zunehmenden Judenhass in Deutschland.
Frau Link, von »Jenseits der Stille« über »Der Junge muss an die frische Luft« bis »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl«: In Ihren Filmen sind die Helden oft Kinder. Trauen Sie denen eher zu, den Menschen etwas über die Wahrheit zu erzählen?
Ich schaue durch die Augen der Kinder auf die Gesellschaft und erzähle erwachsene Geschichten. Kinder beobachten relativ klar und pragmatisch, weil sie noch nicht so viel Vergangenheit haben, sondern mehr Zukunft.
Sie haben Judith Kerrs Buch zwei Mal gelesen: einmal als junges Mädchen und einmal jetzt. War es ein anderes Lesen, abgesehen von der Frage, wie drehe ich das am besten?
Ehrlich gesag,t habe ich mich gerade heute gefragt, was mir als Kind an dem Buch so gefallen hat, denn es ist ja eher unspektakulär. Ich mochte, dass ich mich vor ihm nicht fürchten musste, anders als vor dem traurigen, tragischen Ende bei Anne Frank etwa. Heute ist die Herausforderung, dass wir schon so viel über den Holocaust wissen. Das war in den 1970ern nicht so. Ich weiß nicht, ob das Buch heute noch die gleiche Wirkung hat, aber es wird immer noch viel gelesen.
Erinnern Sie sich daran, wann Ihnen in Ihrer eigenen Biografie das Thema Schoa das erste Mal begegnet ist? Zuhause? In der Schule?
Zuhause. Als es in der Schule behandelt wurde, hatte ich schon über den Krieg gesprochen. Vorsichtig. Vor allem mit meinen Großeltern. In den 70er-Jahren spielte das Thema Krieg ja noch eine relativ große Rolle. In Bussen und Straßenbahnen gab es Schilder, »Für Schwangere und Kriegsversehrte ist Platz zu machen« stand da. Männer mit einem Bein oder fehlendem Arm sind einem im Alltag relativ häufig begegnet. In meiner Familie gab es auch seelische Verwundungen. Meine Mutter wuchs ohne Vater auf, der war im Krieg gefallen. Das Thema Holocaust war noch mal etwas anderes. Also, wie haben die Opfer das erlebt. Aber ja, wir haben auch über das Thema Judenverfolgung und Konzentrationslager gesprochen.
Kannten Sie diesen Moment, in dem sie im Bus saßen und sich gefragt haben, was hat der alte Mann da drüben wohl gemacht?
Ja, und ich habe auch meine Oma gefragt. Sie hat mir damals gesagt, dass sie zu sehr damit beschäftigt gewesen sei, die Familie durchzubringen - der Vater weg und die Frauen immer allein. Ich habe ihr geglaubt, dass sie politisch nicht besonders interessiert war, aber ich bin mir nicht so sicher, was für eine Haltung sie zur Judenverfolgung hatte. »Das war eine andere Zeit« war so ein Zitat, das gern fiel. »Das kannst du gar nicht verstehen«.
Waren Sie wütend.
Wütend? Mir tat meine Mutter leid, weil ihr Papa gefallen war. Und mir tat mein anderer Großvater leid, weil er hinter dem Verband kein Auge hatte, sondern ein Loch im Kopf, was auch immer das bedeutete. Ich habe es nie gesehen. Ich hatte natürlich vor allem erstmal ein Gefühl für meine Familie. In Bad Nauheim, wo ich aufgewachsen bin, kannte ich keinen einzigen Juden. Erst als wir nach München gezogen sind. Da waren wir mit der Schule auch im Konzentrationslager Dachau. Und wir haben diese Filme gesehen.
Über die Befreiung?
Ja. Das hat mir als Jugendliche total zugesetzt. Soweit ich weiß, ist meine Tochter damit gar nicht mehr konfrontiert worden, was ich eigentlich bedauerlich finde. Es würde nicht schaden, wenn man diese Bilder noch mal sieht, die zeigen, was das Ausmaß dieser menschlichen Katastrophe war.
Sie hat das in der Schule nicht gesehen?
Dort wurde über den Nationalsozialismus gesprochen, und die haben irgendwelche Spielfilme gesehen, aber keine Dokumentarfilme. Nicht diese Bilder, die sich mir für alle Zeiten ins Gehirn eingebrannt haben. Bilder von Leichenbergen, von einzelnen Gesichtern, aber auch von Gegenständen, die alle eine Geschichte haben. Spielsachen, Schuhe, Brillen, jedes einzelne Stück gehörte zu jemandem, und alles wurde von irgendjemandem genommen.
Sind diese Bilder auch ein Grund dafür, dass Sie Filme wie »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« machen?
Was mich am Judentum interessiert, ist die lebendige jüdische Kultur. Wie jüdische Familien heute leben, was das Jüdischsein ausmacht. Natürlich interessiert mich auch der Holocaust und unsere deutsche Geschichte. Aber darauf kann man es nicht reduzieren. Ich fand es sehr schön, als wir mit »Nirgendwo in Afrika« in Tel Aviv waren, und ich mit jungen israelischen Filmemachern zu tun hatte, die sich mit dem Thema überhaupt nicht mehr befassen wollten. Die sagten, ähnlich wie die Deutschen hier, nun hört doch mal auf, über die Vergangenheit zu reden, macht doch einen Film über das Heute. Es gab es ein großes Bedürfnis am Jetzt, wie wir wieder zusammenkommen, wie wir die Zukunft sehen.
Der Film fehlt Ihnen aber noch.
Ja, stimmt.
»Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« kommt zu einer Zeit in die Kinos, da der Antisemitismus zunimmt.
Natürlich war er schon viele Jahre in Arbeit, und das war damals nicht die Motivation. Aber jetzt, wo es so bedrohlich wird und Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit zurück sind, hat man das Gefühl, er kommt zur rechten Zeit.
Das Interview führte Sophie Albers Ben Chamo.