Frau von Treuenfeld, Sie haben für Ihr neues Buch »In Deutschland eine Jüdin, eine Jeckete in Israel« zahlreiche Jüdinnen mit deutschen Wurzeln interviewt, die als junge Frauen vor den Nazis ins damalige Palästina geflüchtet sind. Wie kam dieses Buchprojekt zustande?
Ich habe schon als Schülerin in einem überwiegend »deutschen« Kibbuz in der Nähe von Haifa gearbeitet und war gefesselt von den Erzählungen der älteren Menschen über den Aufbau ihres Landes. Über ihre Vergangenheit sprachen sie nicht. Und selbstverständlich habe ich auch nicht danach gefragt. Aber diese erste Berührung mit der jüdischen Geschichte hatte zur Folge, dass ich nicht nur der Faszination dieses Landes verfiel und immer wieder hinflog, sondern auch, dass ich mehr wissen wollte über das »Damals«. Irgendwann wurde mir dann klar, dass ich mit dem Befragen der Zeitzeugen nicht mehr allzu lange warten konnte.
Nach ihrer Ankunft in Palästina wurden die deutschen Juden rasch »Jeckes« genannt. Lässt sich etymologisch erklären, wie das Wort entstanden ist?
Dazu gibt es mehrere Theorien. Die eine besagt, dass sich Jecke von Jacke oder Jackett ableitet. Denn die kultivierten deutschen Juden legten auch im heißen Palästina Wert auf angemessene Kleidung, also auf eine (Anzug-)Jacke, wie sie sie schon in ihrer alten Heimat als Zeichen der Assimilation und als Abgrenzung zum für das osteuropäische und orthodoxe Judentum typischen Kaftan getragen hatten. Eine andere Deutung lautet, dass es das Akronym für »Jehudi Kasche Chavana« ist, was übersetzt »begriffsstutziger Jude« heißt.
Über welche Wege sind die Jeckes damals ins rettende Palästina gelangt?
Die meisten der von mir Befragten kamen von Italien aus per Schiff, zwei flohen wochen- beziehungsweise monatelang auf dem Landweg. Eine Frau wurde mit den später berühmt gewordenen Kindertransporten, mithilfe derer 10.000 Jugendliche gerettet wurden, nach Schottland gebracht. Dort musste sie ohne Familie sechs Jahre bleiben, bevor sie nach Palästina einwandern durfte. Und erst 1949 immigrierte eine weitere, deren Familie zehn Jahre zuvor noch nach Shanghai entkommen konnte.
Die meisten Frauen kamen aus wohlbehüteten Familien des deutsch-jüdischen Bürgertums. Nach der Ankunft in Palästina mussten viele von ihnen körperlich hart arbeiten. Wie kamen sie damit zurecht?
Es blieb ihnen nicht viel Zeit, über das Zurechtkommen nachzudenken. Es galt, schnell eine bezahlte Beschäftigung als Arbeiterin oder Verkäuferin zu finden, mit viel Glück auch als Sekretärin, um die Eltern zu finanzieren. Denn die waren oftmals Akademiker – und das war das Letzte, was das Land in seinen Aufbaujahren brauchen konnte.
Wie wurden die Jeckes von den anderen Juden in Palästina wahrgenommen, und welche Rolle spielten sie in den Anfangsjahren Israels?
Die deutschen Juden wurden anfänglich abgelehnt, weil die wenigsten von ihnen aus zionistisch motivierten Gründen kamen, auch keine für das Land so wichtige landwirtschaftliche Ausbildung hatten und zudem noch die verhasste Sprache der Mörder mitbrachten. Erst im Laufe der Jahre erkannte und bewunderte man ihre Leistungen. Denn die Jeckes waren es, die mit ihrer Disziplin und Korrektheit dem Land zu seinem wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Aufstieg verhalfen und es somit prägten wie keine andere Einwanderergruppe.
Wie beschreiben die von Ihnen interviewten Damen heute ihr Verhältnis zu Deutschland?
Es ist nach wie vor zwiespältig. Sie sind wieder nach Deutschland gefahren – die einen sehr bald schon und dann regelmäßig, die anderen haben Jahrzehnte gewartet, bis sie den Mut fanden zur ersten Wiederbegegnung. Für alle aber gilt, dass sie auf diesen Reisen Menschen eines bestimmten Alters mit Misstrauen betrachtet und sich unweigerlich die Frage gestellt haben: »Was hat der oder die damals gemacht?« Doch auch, wenn die Verbundenheit zu dem Land, in dem sie ihre ersten und entscheidenden Jahre verbracht haben, unübersehbar ist in ihren Bücherschränken und bei der Wahl des Fernsehprogramms – der absolute Favorit ist »Wer wird Millionär« mit Günther Jauch, dessen Fragen sie noch heute weitgehend beantworten können – , so fühlt sich keine als Deutsche. »Ich bin Israelin«, lautet die ganz klare Aussage.
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Andrea von Treuenfeld, geboren 1957, hat in Münster Publizistik und Germanistik studiert. Nach einem Zeitungsvolontariat arbeitete sie unter anderem für »Welt am Sonntag« und »Wirtschaftswoche« als Kolumnistin, Korrespondentin und Leitende Redakteurin. Heute lebt sie in Hamburg und schreibt als freie Journalistin Biografien und Reportagen mit Schwerpunkt Israel, wohin sie regelmäßig reist.
Andrea von Treuenfeld: »In Deutschland eine Jüdin, eine Jeckete in Israel«. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, 240 S., 22,99 €