Wieder sind die Juden schuld. Und wieder weckt Michail Schwydkoi, Russlands Sonderbotschafter für internationale kulturelle Zusammenarbeit, Hoffnungen – nur, um sie umgehend zu enttäuschen. Denn russische Museen dürfen weiterhin an ihre amerikanischen Kollegen nichts ausleihen. Nichts Russisches und nichts Historisches aus anderen Kulturkreisen. Zwar präsentiert die ABA Gallery in New York gegenwärtig »Russian Art from Private Collections: Borovikovsky to Kabakov«.
Doch die Leihgaben stammen allein aus Sammlungen im Westen, unter anderem von dem Tänzer Michail Baryschnikow und dem Geiger Wladimir Spiwakow. Obwohl in diesem Jahr der 200. Jahrestag der ersten russischen Siedlung an Amerikas Westküste in Fort Ross, nördlich von San Francisco, zu feiern ist, müssen sich Eremitage, Tretjakow-Galerie, Puschkin- und andere Museen die erheblichen Einnahmen durch Leihgebühren aus Amerika entgehen lassen – selbst wenn darüber bereits Verträge vorliegen.
enteignung Der Grund für die kulturelle Eiszeit ist ein Urteil des Washingtoner Distriktgerichts vom Juli 2010, das Chabad, den Lubawitscher Chassidim, ihren Eigentumsanspruch an der Schneerson-Bibliothek bestätigte. Die rund 12.000 Bücher und etwa 50.000 Dokumente – das 200 Jahre alte Gedächtnis und Vermächtnis der Lubawitscher – sind derzeit im Besitz der Russischen Staatsbibliothek und des Russischen Militärarchivs in Moskau, die sich weigern, dem Urteil zu folgen und die Bibliothek an die Kläger in Brooklyn herauszugeben.
Wegen dieses Gerichtsurteils behauptet Moskau nun, es müsse befürchten, russische Kunstwerke könnten in den Vereinigten Staaten als »Geisel« für die Schneerson-Bibliothek genommen werden. Dem stehen zwar amerikanische Gesetze über die Immunität solcher Ausleihen wie auch die Versicherung der Lubawitscher entgegen, dass sie nichts Derartiges im Sinne hätten. Aber Russland ist misstrauisch und gibt sich Argumenten von außen gegenüber unzugänglich.
Dabei war man eigentlich schon weiter, wie Schwydkoi, der 2000 bis 2004 russischer Kulturminister war, wissen müsste. Boris Jelzin hatte einst die Rückgabe der Bibliothek zugesagt. Auch ein russisches Gerichtsurteil von 1991 hatte den Eigentumsanspruch der Lubawitscher bestätigt. Das entsprach auch später erlassenen russischen Gesetzen zur Restituierung von Kirchenbesitz. Denn die jüdischen Bücher und Archivalien hatte der kommunistische Staat genauso wie die Kirchenschätze enteignet.
Ein Teil der Schneerson-Bibliothek war gleich nach der Oktoberrevolution konfisziert worden. Was der chassidischen Gemeinschaft danach noch aus ihrem jahrhundertealten Erbe verblieben war, wurde 1928 als »herrenloses Emigrantengut« kassiert, nachdem Josef Jizchak Schneerson, der sechste Rebbe der Chabad-Dynastie, zuvor als »Konterrevolutionär« verhaftet, zum Tode verurteilt und nur dank internationaler Proteste freigekommen, die Sowjetunion verlassen hatte.
In Otwosk bei Warschau konnte er seine Arbeit nur wenige Jahre fortsetzen. 1940 gelang dem Rebben in letzter Minute die Flucht nach Amerika. Den Buch- und Dokumentenbestand seiner Warschauer Jeschiwa, darunter rund 25.000 Archivalien, musste er zurücklassen. Die bibliophilen Kostbarkeiten fielen erst den Nazis, später der Sowjetarmee in die Hände, die sie seitdem in ihrem Moskauer Archiv verwahrt.
argumentationen Zurückgeben will Russland das geraubte Eigentum nicht, mit der mehr als fragwürdigen Begründung, die Schneerson-Bibliothek sei russisches Eigentum, weil sie Russland nie verlassen habe. Dass die Brisanz dieses Falles lange vor dem Washingtoner Urteil in Moskau bekannt und bereits zuvor ein Thema russisch-amerikanischer Gespräche war, verraten geheime amerikanische Papiere, die durch Wikileaks bekannt wurden.
Damals schlug Schwydkoi vor, die Kongressbibliothek in Washington solle mit einem Schreiben um rund hundert Bücher aus dem Schneerson-Konvolut als Leihgabe bitten. Nach mehreren Monaten könnten die Bücher dann gegen eine neue Auswahl ausgetauscht werden. Bedingung sei allerdings eine absolute Immunität, um die Bücher vor prozessualen Zugriffen der Schneerson-Erben, aber auch Polens zu schützen.
Das war natürlich unrealistisch, denn damit wäre das Eigentumsrecht der Lubawitscher zur Farce geworden. Inzwischen hat sich die Argumentation geändert. Jetzt wird die Bedeutung für die seit der Wende wieder erstarkte jüdische Gemeinschaft in Russland herausgestrichen. Ausländer könnten, wenn sie wollten, die Bücher ja in einem Leseraum des Zentrums für orientalische Literatur in der Staatsbibliothek einsehen.
kompromiss Weil die Schneerson-Bibliothek inzwischen zu einem zentralen Streitpunkt der russisch-amerikanischen Kulturbeziehungen geworden ist, merkte Schwydkoi dieser Tage mit Blick auf den amerikanischen Gefühlshaushalt an, er sei überzeugt, eine Lösung werde noch in diesem Jahr gefunden. Nach Moskau zurückgekehrt, schob er in einem Interview mit Interfax jedoch nach, Voraussetzung dafür sei, dass Chabad seine Klage zurückzöge und das Urteil annulliert würde.
In der Zarenzeit – und auch danach – hieß es: »Wo die russische Fahne weht, wird sie nicht wieder eingezogen.« Ganz in diesem Sinne erklärt nicht nur Schwydkoi, was einmal russischer Besitz sei, bleibe russischer Besitz. Allerdings lehrt die jüngste Geschichte, dass seit 1991 vielerorts die russische Fahne nicht mehr weht, wo sie einst aufgezogen worden war.