Blutorange leuchtet die hochgeschlossene bodenlange Robe in dem grau abgetönten Ausstellungsraum. Sie ähnelt einem Bußgewand. Ihr Träger, laut Ausstellungskatalog »exponiert wie Jesus in Ecce-Homo-Darstellungen«, verschränkt in auffälliger Weise die Hände: in Erwartung von Handfesseln? Die drei Figuren, die den Mann mit den stechend blauen Augen flankieren, wirken wie Schüler neben ihrem Meister. Zwei von ihnen heben erregt die Hände, als erwarteten sie Antwort auf drängende Fragen.
Hans Emil Hansen, der sich seit 1902 nach seinem Heimatdorf Nolde nannte, malte das Gruppenbild 1906. Es trägt den Titel Freigeist und ist als Leihgabe der Nolde Stiftung Seebüll in der großen Emil-Nolde-Retrospektive zu sehen, die das Frankfurter Städel Museum noch bis zum 15. Juni zeigt.
»Die Mittelfigur sollte wohl ich selbst sein«, bekannte der Künstler später. Er betrachtete das Bild als sein erstes religiöses Werk. Dabei bemühte Nolde kein einziges religiöses Symbol oder Attribut. Die orangefarbene Frontalfigur fühlt sich in die Enge getrieben. Trachtet sie danach, sich irdischem Urteil durch Selbsterhöhung zu entziehen, sich auf religiöses Terrain zu retten? Die ihn umringenden Personen identifiziert der »Freigeistige« als »Lob zur Linken, Nörgeln und Tadel zur Rechten«.
doppelgesicht Dieses Bild hätte die Ausstellung einleiten und Nolde als doppelgesichtigen Künstler an den Beginn einer Untersuchung stellen können, die herausarbeitet, wieso der Expressionist nur bedingt mit leuchtenden Augen betrachtet werden kann. Schließlich gilt längst nicht mehr, was Hildebrand Gurlitt, Händler »entarteter« Kunst und Vater von Cornelius Gurlitt, 1928 zu Nolde bilanzierte: »Es gibt wenig Kunst heute, mit der man so sicher umgehen, die man so sehr ohne Bedenken in seinen eigensten Räumen aufhängen kann.«
Nolde war überzeugter Nationalsozialist, sein Bekenntnis zum »Führer« ist glühend wie seine Palette. Hätte es nicht Pflicht des Museums sein müssen, hier anzusetzen – ein knappes halbes Jahr, nachdem die »Zeit« aus einem Dokument zitiert hat, in dem Nolde sein Leben »in offenem Kampf« gegen »die übergroße jüdische Vorherrschaft in allem Künstlerischen« begreift?
Felix Krämer winkt ab. Noldes Antisemitismus sei »nicht der rote Faden der Ausstellung«, so der Kurator. Er will den Maler im »zeithistorischen Rahmen sehen, in dem seine Kunst entstanden ist«, tastet chronologisch rund 140 Arbeiten ab. Wer befürchtet hatte, es werde ihm sein Nolde genommen, kann beruhigt sein. Die erste große Übersicht über Noldes Schaffen seit 25 Jahren wird so glorios wie politisch vorsichtig in Szene gesetzt. Wie in einer mit Seide ausgeschlagenen Schmuckschatulle präsentiert das Städel die Werke. Ob Nolde aber als Täter oder Opfer des Regimes anzusehen ist, weil seine Bilder im Dritten Reich als »entartet« verfemt waren, bleibt offen.
unverfänglich Das Wiedersehen beginnt unverfänglich. Lichte Meeresstimmung, so der Titel eines Gemäldes, erfüllt den ersten Raum, wo der Autodidakt als Suchender vorgestellt wird. Noldes Wurzeln werden gefunden bei Arnold Böcklin und van Gogh, ja bei Albrecht Altdorfer. Dass er alsbald die Kritik polarisiert, ist für einen guten Maler ein Qualitätskriterium, zeugt von Innovationskraft.
Die Wissenschaftler und Katalogautoren Aya Soika und Bernhard Fulda sind dem Rätsel Nolde und seinen Sympathien für die Nazis auf der Spur. Seine »braun gefärbten Äußerungen« werden als »Anbiederungen« und »Rettungsversuche« charakterisiert. Nolde, der mit dem NS-Regime mehr als nur flirtete, wurde von Goebbels gesammelt und dennoch mit dem Stigma »entartete Kunst« belegt. Deshalb genoss das Mitglied einer nationalsozialistischen Partei in Nordschleswig, das mit seiner Frau 1933 Ehrengast beim Münchner Jubiläumsbankett des Hitler-Putsches war, nach 1945 als Verfemter und NS-Opfer besondere Aufmerksamkeit. Erklären die Bilder etwas davon?
verbot Vom Image des Ritterspornmalers wollte Nolde früh schon weg. »Marksteine« auf diesem Weg nennt er seine religiösen Motive. Sie gelingen sensationell. »Vom optisch äußerlichen Reiz zum empfundenen inneren Wert« strebt er nun, behält das Glutkolorit der Blumen bei – und traut sich etwas im Formalen. Der neunteilige, wie ein mittelalterlicher Flügelaltar aufgebaute Bilderzyklus Das Leben Christi ist eine individuelle Betrachtung biblischen Geschehens und Korrektur herkömmlicher Auffassungen. Die Apostel sind für Nolde »einfache jüdische Land- und Fischermenschen«. Für die Nazis, die das Opus magnum unter die »Entartete Kunst«-Guillotine zerren, ist es »gemalter Hexenspuk«, von «geschäftstüchtigen Juden als Offenbarung deutscher Religiosität ausgegeben«. Nolde lässt religiöse Themen fortan sein.
Dennoch werden mehr als 1100 seiner Werke, und damit mehr als von jedem anderen Künstler, aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt. 1941 hat er Ausstellungs- und Verkaufsverbot. Nach dem Krieg ist seine Kunst gleich wieder Kult, 1946 wird er in einem Entnazifizierungsverfahren entlastet. Die großartige Grablegung von 1915 ist 1959 ein zentrales Werk der documenta.
farbenmagier Inzwischen währt die deutsche Nolde-Verehrung seit gut 100 Jahren. Helmut Schmidt ließ an seinem Bonner Büro ein Schild anbringen mit der Aufschrift »Nolde-Zimmer«. Die DDR fand ihn »bürgerlich dekadent«, nicht aber faschistisch. Noldes Kunst selbst spricht keine judenfeindliche Sprache. »Noldes Antisemitismus zeigt sich nicht direkt in seinen Werken«, sagt Kurator Krämer. Nur in frühen religiösen Darstellungen gebe es »Klischeevorstellungen in punkto Aussehen«.
»Meine Generation ist mit Nolde-Überdruss aufgewachsen«, sagt Krämer. Er will nun junges Publikum begeistern für den Farbenmagier und seine entfesselte Malerei, nicht für den Prototypen eines Mitläufers, dessen künstlerisches Vermögen so exzeptionell wie sein moralisches Versagen erschütternd war – was, je nach Sichtweise, noch spannender ist als die Pinselführung.
»Emil Nolde. Retrospektive«. Städel Museum Frankfurt/Main, bis zum 15. Juni
www.staedelmuseum.de