Show

Der ehrliche Scharlatan

Ladies und Gentlemen, ich stelle mich vor: Ich bin ein ehrlicher Scharlatan.» Gilbert Jakubczyk, 62, beginnt seine Show auf einem Straßenfest im Berliner Westend. «Ich habe hier den kleinsten Flohzirkus der Welt, direkt aus dem Nationalmuseum in Paris, Applaus, Applaus.

Und dazu habe ich auf eBay meinen Star ersteigert, 14 Millionen Dollar habe ich für ihn ausgegeben. Er ist 128 Jahre alt und hat im Moulin Rouge gearbeitet. Voilà: Fifine!» Der kleine, elegante Mann mit dem französischen Akzent und spitzen Schuhen presst zwei Finger zusammen und betrachtet sie durch eine Lupe.

tricks Gilbert steigt von der Laderampe seines kunterbunten Lkws, der seit Jahrzehnten sein Zuhause wie seine Bühne ist. Er präsentiert ein «Wunder», das nichts als ein gefalteter Luftballon ist; faltet lustige Hüte aus nichts als einem Stück Filz; lässt seine brennende Zigarette mit viel «Galligalli und Girigiri» im Anorak eines Jungen verschwinden.

«Ich mache Shows wie früher im 14. Jahrhundert. Flohzirkus gibt es seit 100 Jahren und Feuerspucker seit der Erfindung des Petroleums.» In seinem Wohngefährt mit Teppich, Schrank, Kochecke und einer Mesusa an der Tür dreht er sich eine Zigarette aus der Tabakbox auf dem Tisch .

Geboren in Ostpolen nahe der russischen Grenze, wuchs Gilbert Jakubczyk in Brüssel auf. Sein Großvater wurde von den Nazis ins KZ deportiert. Jemand gab ihm dort einen Tipp: «›Sag, du bist Schuhmacher‹, auch wenn er das gar nicht konnte. So rettete er sein Leben.» Seine Frau hatte nicht so viel Glück. «Mit einem Stück Seife in der Hand, hopp in die Gaskammer», sagt Gilbert. «Willst du einen Witz aus dem KZ hören, den Großvater mir erzählt hat?»

«Ein Nazi fragt einen jüdischen Gaukler im Lager, ob er seinen Namen erraten könne.» Gilbert nimmt Papier und Schere. Er faltet das Papier und schneidet Schnipsel, die aneinandergereiht den Namen «Willi» ergeben. «Der Nazi ist beeindruckt. Weißt du auch meinen Beruf?» Gilbert verschiebt die Schnipsel auf dem Tisch, bis sie ein Hakenkreuz ergeben. «Donnerwetter! Jetzt will ich aber auch meine Zukunft wissen ...» Gilbert grinst – und formt aus den Schnipseln ein Grabkreuz.

pigalle «Als Kind hat mir Großvater immer gesagt: Geh niemals nach Deutschland. Wenn er wüsste, dass ich seit 30 Jahren in Deutschland auftrete, würde er sich im Grab herumdrehen.» Aber 1976 traf Gilbert vor dem Centre Pompidou in Paris einen Mann, der einen Dokumentarfilm über ihn machen wollte. Gedreht wurde unter anderem auch in Deutschland. «Ich war schon zwei Tage früher da und ging am Abend in eine Disco. Dort sah ich ein Mädchen, das wie ich einen Davidstern am Hals trug. Sind Sie Jüdin? Ja. Und haben Sie hier ein Problem in Deutschland? – Dann habe ich entdeckt: Es ist gar nicht so ...»

Gilbert lacht und zieht ein Foto seines Großvaters und seiner Tante aus dem Jahr 1923 hervor. Sein Kleinod, «meine beiden liebsten Menschen». Viel habe er von diesem Großvater gelernt. Er sprach neun Sprachen von Jiddisch über Italienisch bis Französisch, die meisten davon spricht Gilbert noch heute. «Mit meiner Mutter habe ich mich dagegen schlecht verstanden. Sie war mal mit dem einen, mal mit dem anderen, sagt man so? Das war ein Scheißleben, das wir hatten.» Immer wieder flüchtete er zu seiner Tante, bis er in einem Kinderheim landete. Von dort haute er ab und schlug sich sich als 13-Jähriger zur Place Pigalle durch. «So begann mein Leben auf der Straße.»

In einem Bistro suchte er Arbeit. «Bist du Gigolo oder Zuhälter?, fragten die mich. Nein, Monsieur, ich bin Belgier», antwortete er und bekam etwas zu essen. Gilbert wusch Gläser und Teller. «Tous les gens bizarres», erinnert er sich, «all die verrückten Leute verkehrten in dieser Gegend.»

«strassenköter» An einer Métrostation lernte der Junge «Joe la Pincette» kennen, «ein Mann wie der Große Zampano aus Fellinis La Strada». Joe la Pincette war klein und gedrungen, aber sehr stark. Er stemmte bollerige «Kartoffelgewichte», und sein Meisterstück war es, ein 20-Kilo-Gewicht an einer Fünf-Franc-Münze wie am ausgetreckten Arm zu halten. «Niemand aus dem Publikum konnte ihm das je nachmachen.»

Später hat Gilbert diese inzwischen so gut wie verschwundene Welt fotografiert und zu einem Buch gemacht: Seine Bilder zeigen das Universum der Gaukler am Pigalle: Fakire, die sich Stangen durch die Körper treiben und auf Glasscherben laufen, einen Mann, der lebende Frösche schluckt und sie ebenso lebendig wieder in einen Bottich spuckt, den «Petomanen», der Melodien furzt, die Feuerschlucker und Seiltänzer, Messerwerfer, Schwertschlucker und Muskelmänner.

Joe la Pincette war sein Lehrer. «›Mein Zigeuner‹, so präsentierte er mich.» Gilbert wurde einer der ersten Gaukler vor dem Centre Pompidou, das 1969 eröffnet wurde. Jeden Tag strömten Massen auf den Platz, die Gaukler führten ihre Zauberstücke vor, und die Taschendiebe taten das ihre.»

Von da an ging’s bergauf. Auf einer Fotowand über dem Esstisch, den er nachts zum Bett umbaut, ist Gilbert mit Amanda Lear und Georges Moustaki zu sehen, mit den Schauspielern Eddie Constantine, Anthony Perkins und Audrey Hepburn, dem Pianisten Richard Clayderman, Frankreichs verstorbenem Präsidenten Jaques Chirac und der britischen Prinzessin Anne. Von Marcel Marceau lernte er Pantomime. Er hat vor den Großen der Welt gespielt und mit ihnen gespeist. Er trat bei Frank Elstner in «Wetten, dass ...?» auf und in der Sportschau, spielte im Circus Roncalli und auf Festivals von Deutschland bis Israel. Er reiste «bis in die Reisfelder Chinas und zu den Kamelmärkten Afrikas». Gilbert wurde ein Star. «Aber ich blieb immer auf der Straße, immer der Straßenköter. Ich passte nicht in die Salons.»

netzwerk Aus Büchern holte er die Vergangenheit auf die Bühne, «die Geschichte der Gaukler von 2400 vor Christus bis heute». Gilbert hat auch die Kehrseite dieser Geschichte erlebt: «80 Polizisten gegen zwei Straßenkünstler.» Spuckende Rassisten. Behördenwillkür, Raub, Totschlag. Er gründete einen Verein, scharte alles fahrende Volk um sich, organisierte Streiks auf den Champs-Élysées. Jahrelang stritt er vor Gericht für die Rechte der Straßenkünstler in Frankreich. Jean Marais stellte ihm damals einen Anwalt. «Heute sind wir geschützt – als Kulturgut.» Darauf ist er stolz.

Gilbert Jakubczyk ist Profi. Einer, der seinen Floh Fifine den neunfachen Salto mortale machen lässt, bevor er in den Becher platscht («gestern ist er daneben gesprungen»). Einer, der seine Nummern genau kalkuliert und nichts dem Zufall überlässt. «Der Trick mit den Filzhüten stammt aus dem 16. Jahrhundert. Ein Gaukler namens Le Tabarin konnte 58 Hüte mit diesem Filz falten. Das ist die hohe Kunst: Wir treten auf mit fast nichts – und machen daraus etwas Großes. Ist das nicht auch ein jüdisches System?»

«Es ist ein bisschen wie bei Edith Piaf: Ich bereue nichts», sagt er und dreht sich eine neue Zigarette. Er war mal verheiratet, mit einer Deutschen. Er hat eine Tochter, sie lebt in Brüssel und leitet ein Pharmaunternehmen. Seine Frau starb vor zehn Jahren. Inzwischen ist Gilbert selbst Großvater und besitzt ein kleines Häuschen im Pariser Vorort Malakoff. «Und ein Haus mit meiner Freundin in Südfrankreich, da wollen wir später mal leben.» Die Freundin heißt mit Nachnamen «Jud». Darüber muss er lachen. Und später, das ist noch weit.

In der Zwischenzeit sammelt Gilbert Jakubczyk sie wieder um sich, die Feuerjongleure, Theaterleute und Rasierklingenfresser, und er versucht auf seiner hoch professionell gemachten Website die alten Nomaden mit den neuen Wilden zusammenzubringen: «Steampunks. Das sind junge Leute in den USA, die total irre sind und mit ihren Kostümen wieder in unser Thema des 14. Jahrhunderts passen.»

projekt Er hat große Pläne. In einem Koffer unter der Spüle hat er mit Figuren sein Projekt modelliert: Eine Art Gaukler-City, die «Historic Fairground Agency», mobil und auf festem Areal. Damit will Gilbert seine Zunft in die Zukunft führen. Er ist einer der Letzten seiner Spezies und zugleich ihr unermüdlicher Erneuerer.

Sein Freund Gerd Käfer, der Münchner Feinkostunternehmer, hatte ihm einmal ein achtmonatiges Engagement verschafft, «da wurde ich krank. Man kann mich nicht einschließen». Gilbert braucht die Abwechslung. Die «Wiesn» in München, der «Alte Weihnachtsmarkt» in Köln, das ist seine Welt, sein Fluidum: «Ich schnuppere das Publikum.»

Der Kreis um Gilbert auf der Preußenallee wird immer größer. Er mimt den Automatenmenschen: «Michael Jackson hat das mal gesehen und machte es mir nach. Breakdance heißt das seither.» Man muss ja nicht alles glauben, was er unter großem Gelächter vom Stapel lässt. Am Ende seiner Show spuckt er noch Feuer und legt seine Hüte aus. Eigentlich wird Gilbert längst von Veranstaltern gebucht und bezahlt.

Aber Kleingeld verschmäht man nicht, alte Gewohnheit. «Wer nix hat, kein Problem, einfach dem Nachbarn in die Tasche greifen». Dazu singt er den «Marsch der erkälteten Garnelen», im Nu sind die Hüte voll. «Dankeschön!» In zwei Stunden wird Gilbert Jakubczyk wieder auf der Autobahn sein. Morgen tritt er in Aachen auf.

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