Literatur

Der doppelte Shylock

Ein Stück seines eigenen Lebensdilemmas hat Ivan Nagel bei Shakespeare wiedergefunden. Foto: Insel

Noch bis kurz vor seinem Tod im April hat Ivan Nagel an seinem letzten Werk gearbeitet, in dem er Shakespeares vielleicht schwierigstes Stück neu las: Der Kaufmann von Venedig. Es ist nichts Geringeres als ein fundamentales Buch, das nun postum veröffentlicht wurde: Das Buch eines Außenseiters über ein Stück voller Außenseiter.

Dabei wusste der 1931 geborene Journalist und Theatermensch Nagel ganz genau, worüber er schrieb: »Im von den Nazis besetzten Budapest hatte ich als Jude nicht der sein dürfen, der ich war. Als Kapitalistenkind durfte ich im sozialistischen Ungarn nicht sein, der ich war. Und nun kam meine Mutter und akzeptierte mich auch nicht als der, der ich war: ein Homosexueller.«

masken So hat Nagel es, wenige Monate bevor er starb, in einem langen Radiogespräch erzählt. Kein Wunder, dass ihn der Kaufmann von Venedig besonders interessierte. Hier prallen sie ja auch wirklich bühnenwirksam aufeinander: der Jude Shylock, der Schwule Antonio und der genusssüchtige Lebemann Bassanio.

Drei Figuren, die nicht sein dürfen, was sie wirklich sind und in der Welt des aufkommenden Bürgertums eine Maske tragen müssen, die ihr eigentliches Ich verdeckt. Nagel hat sein Buch dem großen Schauspieler und Regisseur Fritz Kortner – jüdischer Emigrant wie er – gewidmet. Bei ihm hatte er in den 60er-Jahren die Kraft der Sprache entdeckt und erfahren, wie »Worte zu leben, vor Ausdruck und Bedeutung zu wachsen begannen«.

Und so gräbt Ivan Nagel tief im alten Text, denkt sein ganzes, leider unvollendet gebliebenes Buch lang über Shakespeares Stück nach und entdeckt dabei etwas Unvorstellbares, im Werk des Dichters fast Skandalöses: Zwei Stücke in einem, gespielt aber von den gleichen Personen, mit der gleichen Handlung.

Hier die romantische Komödie über den idealisierten Antonio, der sich vom hasserfüllten Monstrum Shylock dreitausend Dukaten leiht und ein Pfund seines Fleisches verpfändet, um dem Freund Bassanio die Brautwerbung zu ermöglichen. Dort das Problemstück über den erniedrigten und bespuckten Ghettojuden, den heimlichen »Sodomiten« Antonio und um das Glückskind Bassanio, das seine Hochzeitsnacht lieber im Bett Antonios verbringt anstatt bei seiner Angetrauten. All das in nur einem Stück, erzählt zwischen zwei Buchdeckeln, aufgeführt auf einer Bühne, zur gleichen Zeit.

mehrdeutigkeiten In seiner fundamentalen Deutung macht Nagel klar: Das geht nicht zusammen, das konnte der Elisabethaner seinen Zuschauern nicht zumuten. Nicht einmal auf seiner Bühne dürfen die von ihm geschaffenen Geschöpfe das sein, was sie sind. Wobei für einen Theatermann wie Shakespeare natürlich auch Wittgensteins berühmter Satz keine Lösung sein kann: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Stattdessen: überall Anspielungen, Mehrdeutiges, verschlüsselte Hinweise.

Shakespeare vertraute wohl auf ein doppeltes Publikum, für das er sein doppeltes Stück schrieb: Wer hören will, wird hören; wer sehen will, wird sehen. Mit Nagels Augen sehen wir Shakespeares Stück nun als doppeltes, als Kippbild. Dabei fordert er viel von uns, wie er selbst schreibt.

Aber Ivan Nagel war eben nicht nur ein genauer und fordernder Schreiber, er war vor allem ein Autor, der Begeisterung und Freude am Nachdenken wecken konnte. So ist zu hoffen, dass dieses Buch die von Nagel gewünschte Leserschaft findet, die hier nicht nur ein Werk der Weltliteratur neu entdecken, sondern auch dem Kampf um die eigene Identität wie einem Krimi folgen kann.

Ivan Nagel: »Shakespeares Doppelspiel: ›Der Kaufmann von Venedig‹ neu gelesen«. Insel, Berlin 2012, 333 S., 32 €

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025

Interview

»Die ganze Bandbreite«

Programmdirektorin Lea Wohl von Haselberg über das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg und israelisches Kino nach dem 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  16.04.2025