Die Verdienste des Judaisten und Historikers Ernst Ludwig Ehrlich (1921–2007), dessen 100. Geburtstag wir am 27. März begehen, liegen nicht so sehr in den Erträgen seiner wissenschaftlichen Forschungen, sondern mehr in seinen praktischen Bemühungen, den interreligiösen Dialog zu fördern und nach der Schoa so etwas wie eine Kultur der Verständigung und der Zusammenarbeit von Christen und Juden im deutschsprachigen Raum zu begründen.
Man traf Ernst Ludwig Ehrlich zu seinen Lebzeiten überall dort an, wo es galt, das christlich-jüdische Gespräch zu vertiefen und voranzutreiben. Ich erinnere mich an zahlreiche Treffen in den 70er-Jahren mit dem Dominikanerpater Willehad Paul Eckert (1926–2005), an denen Ehrlich und ich teilnahmen und bei denen es um das christlich-jüdische Gespräch und dessen Fort- und Rückschritte ging.
Man traf Ernst Ludwig Ehrlich überall dort an, wo es galt, das christlich-jüdische Gespräch zu vertiefen und voranzutreiben.
Bei diesen Zusammenkünften und den dabei geführten Gesprächen betonte Ehrlich, dass es in erster Linie darauf ankomme, die Akzeptanz des anderen mit der Feststellung der bestehenden Differenzen zu verbinden.
Auf einer Tagung der Bischöflichen Akademie in Aachen im November 1974, bei der es darum ging, wie es die Juden mit Jesus halten, erklärte Ehrlich beispielsweise: »Das Christentum wird, ob Christen es wollen oder nicht, notwendigerweise stets auf das Judentum verweisen … Anders ist es nun mit den Juden. Nichts nötigt sie, von Jesus und den Evangelien Kenntnis zu nehmen … Der Jude kann ein vollgültiges religiöses Leben führen, ohne je etwas von Jesus und dem Evangelium gehört zu haben.«
ANTWORTEN Für im Glauben verankerte Christen haben Formulierungen dieser Art häufig einen gerade ketzerischen Charakter. So mancher ist irritiert, andere verfallen in Glaubenszweifel, und Dritte schließlich nehmen strikte Abwehrpositionen ein. Ehrlich war nun jemand, der half, der hier nicht polarisierte und auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen Judentum und Christentum bestand, sondern jemand, der Antworten anbot.
Einer seiner Sätze, die er bei entsprechenden Anlässen verkündete und der mir immer noch im Ohr ist, war der, dass Juden und Christen gehalten seien, nicht getrennt, sondern gemeinsam das biblische Erbe zu verkünden.
Was Ehrlich unter dem biblischen Erbe verstand, ist die mit diesem Erbe verbundene Ethik, von der er meinte, dass Juden und Christen sich dieser Ethik gemeinsam verpflichtet fühlen sollten.
Die Ethik Jesu, argumentierte Ehrlich, basiere auf der Hebräischen Bibel, und sie finde sich im Neuen Testament. Es sei die Aufgabe von Juden und Christen, das zu erkennen und gemeinsam und getrennt diese Ethik in die Welt zu tragen. Schon deshalb sei es notwendig, dass Juden und Christen zusammenarbeiten und vor dem Hintergrund ihrer religiösen Quellen in einen Dialog miteinander treten.
Während des Zweiten Vatikanischen Konzils war Ehrlich, worauf er sein Leben lang stolz war, der jüdische Gesprächspartner von Kardinal Augustin Bea (1881–1968). Man hat Ehrlich dafür gefeiert, dass er an der Vorbereitung der Erklärung »Nostra Aetate« (1965) in entscheidender Weise beteiligt war.
ZUKUNFT Die Erklärung, die das Verhältnis zwischen Katholiken und Juden auf eine neue Basis stellte, wurde seinerzeit mit 2221 Ja-Stimmen gegen 88 Nein-Stimmen angenommen. Ob mit dieser Erklärung ein neues Kapitel im Verhältnis zwischen Katholiken und Juden aufgeschlagen wurde, wird die Zukunft zeigen.
»Jede Konzilserklärung«, gab Ehrlich auf dem 81. Deutschen Katholikentag 1966 zu Protokoll, »bleibt toter Buchstabe, wenn Menschen sie sich nicht aneignen, sie nicht in die Tat umsetzen. … Christen und Juden werden, jeder auf eigene Weise, dessen innewerden, was das eigentlich bedeutet: den anderen zu lieben, obwohl er anders ist, eine Weisung, die Juden und Christen von ihrem gemeinsamen Herrn empfangen haben.«
Ehrlich war 1965 an der Vorbereitung der vatikanischen Erklärung »Nostra Aetate« beteiligt.
Oft habe ich mich gefragt, ob Ernst Ludwig Ehrlich tatsächlich daran geglaubt hat, dass die »Erklärung« zu einer Wende im Verhältnis zwischen katholischen Christen und Juden führen wird. Ich hatte da meine Zweifel, schon damals, und habe sie auch noch heute. Immer wieder kommt es bekanntlich zu »Entgleisungen«, die den jüdisch-katholischen Dialog belasten, etwa als die »Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum« die Schoa als »typisches Werk eines neuheidnischen Regimes« bezeichnete.
DEBATTE In Erinnerung ist uns auch, dass es zu heftigen Irritationen und Protesten in der jüdischen Welt kam, als Papst Benedikt XVI. am 5. Februar 2009 den katholischen Traditionalisten entgegenkam und ihnen die Rückkehr zur lateinischen Version der Karfreitagsfürbitte »Oremus et pro Judaeis« erlaubte. Allgemein sah man das als einen Rückfall hinter die einst gefassten Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ernst Ludwig Ehrlich, der 2009 schon nicht mehr lebte, hätte sich in der Debatte sicherlich zu den Vorgängen in markanten Worten geäußert.
In einem Aufsatz, ein Jahr vor seinem Tod unter dem Titel »Antisemitismus, Israelkritik und das Leben in der Diaspora« veröffentlicht, räumte Ehrlich ein, dass die Dokumente des Vatikans und der Bischofskonferenzen nicht überall voll zur Kenntnis genommen »und im Glaubensleben der Gemeinden umgesetzt werden«. Die Liturgie sei zwar in den vergangenen Jahren Zug um Zug von judenfeindlichen Äußerungen gereinigt, aber das hat nur bedingt zum Verschwinden der Judenfeindschaft und des antisemitischen Vorurteils beigetragen.
Dass es in Europa heute überhaupt noch christlichen Antijudaismus und Antisemitismus gibt, so Ehrlich, sei nach der Schoa für den gesunden Menschenverstand eigentlich kaum noch nachvollziehbar. Aber dessen ungeachtet müsse man davon ausgehen, dass die Abneigung gegenüber den Juden nach wie vor existiere und der Hass die Köpfe vergifte, vielleicht in Deutschland weniger, aber dafür in anderen europäischen Ländern heute umso mehr. Dies sei zwar eine »traurige Feststellung«, aber kein Grund, in Fatalismus zu verfallen.
Man müsse, so hat sich Ehrlich immer wieder geäußert, alles tun, um das antisemitische Vorurteil in seinen verschiedenen Ausformungen zu bekämpfen. Dass dies nicht immer einfach ist, wusste er. Das hat ihn aber nicht davon abgehalten, sich zu Wort zu melden, wenn es darauf ankam. Er warnte aber davor, sich von jüdischer Seite allzu sehr in den Vordergrund zu drängen. Denn, so meinte er, den Antisemitismus zu bekämpfen, sei nicht Aufgabe der Juden, sondern der Nichtjuden. Politik, Polizei und Justizbehörden hätten sich einzuschalten. Alles andere hielt er für kontraproduktiv.
ISRAEL Ernst Ludwig Ehrlich, ein durch und durch politischer Kopf, äußerte sich auch zu der Frage, ob Kritik an der Politik des Staates Israel Antisemitismus ist oder nicht. Er war der Ansicht, eine solche Kritik sei legitim und erlaubt – so wie auch die Kritik an der Politik eines jeden anderen Staates. Aber, so meinte er, es sei keinesfalls statthaft, und hier äußerte sich Ehrlich sehr dezidiert, »andere moralisch-politische Maßstäbe an Israel als an den Rest der Welt« anzulegen.
Warum kritisiere man Israel, aber nicht Russland, nicht China, die Türkei, den Sudan und andere Länder wegen ihrer Politik? Das sei auffallend und lasse den Schluss zu, dass hinter der Kritik an der Politik des Staates Israel noch ganz andere Motive stecken.
Wenn Kritik an der Politik des Staates Israel verallgemeinert und in eine pauschale Abwertung aller Juden mündet – dann, so Ehrlich, sei dies nichts anderes als Antisemitismus. Allerdings sei es nicht ein offener Antisemitismus, wie wir ihn bisher kennen, sondern ein Antisemitismus in verkleideter Form.
Ähnlich schätzte Ehrlich die Judenfeindschaft in Teilen der arabischen Welt ein. Auch hier, so meinte er, handele es sich um einen Antisemitismus, der sich nicht gegen die Juden direkt richte, sondern darum, dass »die Juden« als Symbol wahrgenommen würden, in die alles das hineinprojiziert werde, was an der westlichen Welt als verachtenswert erscheint.
POLITIK Ernst Ludwig Ehrlich und ich haben uns im Verlauf der Jahre bei verschiedenen Gelegenheiten immer wieder darüber ausgetauscht, ob und was wir von jüdischer Seite zur Bekämpfung des Antisemitismus beisteuern könnten. Wir waren uns einig, dass der Bekämpfung des Antisemitismus Grenzen gesetzt sind. Juden sollten sich bei diesen Aktivitäten zurückhalten. Es sei in erster Linie die Politik gefordert. Sie müsse die Voraussetzungen für die Bekämpfung des Antisemitismus an den Universitäten und Bildungseinrichtungen schaffen.
Skeptisch waren wir allerdings gegenüber den Vorschlägen derjenigen, die glauben, es reiche aus, aufzuklären und Wissen zu vermitteln. Das sei zwar lobenswert, würde aber, so hielten wir dagegen, dem Antisemitismus nicht seine Basis entziehen.
Ernst Ludwig Ehrlich war sicherlich kein Gelehrter von Rang, der Spuren in der »Wissenschaft des Judentums« hinterlassen hat. Ihn zu einem solchen zu stilisieren, würde, wie ich meine, ein falsches Bild vermitteln. Eher könnte man von ihm sagen, dass er ein Weiser war, ein »Talmid Chacham«.
Er verstand es, und hier liegt seine eigentliche Leistung, Menschen zusammenzuführen, sie zu begeistern und von einer Idee zu überzeugen. Er fühlte sich dem rabbinischen Konzept des »Tikkun Olam«, der »Heilung der Welt«, verpflichtet. Auf dieses Konzept ist er immer wieder zu sprechen gekommen.
wirkung Die von Ehrlich einst ausgehende Wirkung ist noch heute zu spüren. Er lebt zwar nicht mehr, aber das, was er mitzuteilen hatte, stößt nach wie vor auf Interesse. Nachwachsende Generationen sollten, so ist zu hoffen, mit seinen Ideen auch künftig etwas anfangen können.
Ernst Ludwig Ehrlichs Vermächtnis lebt fort in dem verdienstvoller Weise von Rabbiner Walter Homolka gegründeten Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES). Lutz, wie seine Freunde ihn nannten, hätte vermutlich seine helle Freude daran gehabt, dass begabte jüdische (und auch nichtjüdische) Studenten Stipendien erhalten, die seinen Namen tragen.
Der Autor ist Historiker und Vorstandsvorsitzender der Moses Mendelssohn Stiftung.