Gesellschaft

Der Chor der Tanten

Diesen Monat wurde in The Story, einer israelischen Dokumentarreihe, die von einem der großen Fernsehkanäle zur besten Sendezeit ausgestrahlt wird, das neue Familienmodell vorgestellt. Das erste Bild der Folge mit dem Titel »Kinder per Vertrag« zeigte Familienmitglieder auf einem Sofa: drei Männer, zwei Frauen und vier Kinder. Es handelte sich nicht etwa um eine Kommune.

Die Familie wohnt in drei verschiedenen Häusern. Sie wurde von einem homosexuellen Paar gegründet, das beschlossen hatte, gemeinsam mit einer unverheirateten Frau ein Kind zu haben. Als die Männer ein weiteres Kind wollten, lebte ihre Partnerin mit einem anderen Mann zusammen, mit dem sie zwei Kinder hatte. Da die Mutter des ersten Kindes nicht mehr zur Verfügung stand, wandte sich das Paar an eine andere Frau, um sein zweites Kind zur Welt zu bringen.

zivilrecht Die Fernsehmoderatorin bat die Zuschauer, »die Dinge offen und unvoreingenommen zu betrachten« und versprach, sie könnten sich auf Überraschungen gefasst machen. Zunächst erfuhr man, wie man einen zivilrechtlichen Vertrag schließt, der die Grundlagen eines neuen Familienmodells definiert, in dem die biologischen Eltern nicht zusammenwohnen und nicht durch Liebe oder Sex verbunden sind.

Den Zuschauern, die vielleicht glaubten, das alles ginge nur ein paar Exzentriker an, wurden Statistiken präsentiert, damit sie sehen konnten, wie hoch der Prozentsatz der Bevölkerung ist, der alternative Wege wählt, um eine Familie zu gründen. Es fiel die Zauberformel: »Viele Untersuchungen stützen dieses Modell«.

Die Moderatorin beschrieb es so: Man bekommt gewissermaßen eine Familie, die einer Familie nach der Scheidung ähnelt, bloß ohne den Kummer und die bösen Erinnerungen, die den Zusammenbruch einer Ehe begleiten. Zum Schluss wurde erwähnt, dass sich das Phänomen von Jahr zu Jahr weiter verbreitet, dass das monogame Modell vielleicht schon in naher Zukunft verschwinden wird und die Familieneinheit dann in viel stärkerem Maße so aussehen wird wie das, was man in der Sendung gesehen hat.

zeitgeist Sowohl der Tonfall der Moderatorin, wenn sie den Zuschauern die neuen Regeln erläuterte, als auch ihre Körperhaltung – der Kamera zugewandt – erinnerten mich an das, was ich als junges Mädchen den Chor der Tanten nannte. Seit meiner frühen Jugend lauschte ich jener Gruppe von Frauen, die an den Feiertagen oder in Zeiten der Trauer beisammen saßen. Sie setzten sich um den Tisch und redeten, während sie tassenweise süßen Tee tranken und Teller voller salziger Brezeln aßen.

Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, dass es sich dabei um ein Parlament mit einer ganz spezifischen Dynamik handelte, dessen Aufgabe darin bestand, die Gesetze der Familie zu überprüfen und sie dem Zeitgeist anzupassen. Es wurde ja vorab keine Tagesordnung verteilt, und die Reden wurden auch nicht protokolliert. Auch vertraten die ausgetauschten Argumente keine radikal entgegengesetzten Positionen.

Aber ich, die ich diesen Gesprächen mucksmäuschenstill zuhörte, damit man mich nicht hinausschickte, wusste, das Ziel der Sitzungen war, eine dringende Angelegenheit von allen Seiten zu betrachten, denn die Debatte darüber allein würde die starren Grenzen allmählich aufweichen und flexibler machen. Das Ergebnis war, dass sich viele Dinge, die bislang durch genau das gleiche Forum verdammt worden waren (zum Beispiel, wenn ein Mitglied der Familie vor der Eheschließung mit seinem Partner zusammenwohnen wollte), durch diese Gespräche in etwas verwandelten, das auch seine guten Seiten hatte.

Jahrelang sang der Chor der Tanten zum Beispiel, »neunzehn Jahre ist ein sehr schönes Alter, um zu heiraten«. Nachdem man eingesehen hatte, dass es besser war, wenn ein Mädchen erst den obligatorischen Militärdienst hinter sich hatte (unter anderem, weil es dort exzellente potenzielle Bräutigame kennenlernen konnte), blieben die Musik und der Text gleich, nur die Zahl wurde aktualisiert: jetzt war 21 »ein sehr schönes Alter, um zu heiraten«.

samenspende Ich betrachte zwei Familienfotos, die die große Veränderung widerspiegeln, die sich innerhalb einer Generation vollzog. Auf einem schwarz-weißen Foto, aufgenommen 1944 in Bagdad, ist der Bräutigam der Bruder meiner Mutter. Sie selbst steht neben der Braut, als Brautjungfer. Die Braut, die für das Foto auf einem Hocker steht und stark geschminkt ist, um sie älter aussehen zu lassen, ist knapp 15 Jahre alt.

Das zweite, farbige Foto wurde vor etwa anderthalb Jahren in einer israelischen Synagoge geknipst. Es zeigt meine Cousine, eine unverheiratete Frau von 45 Jahren, mit einem Baby auf dem Arm. Fünf Jahre vergeblicher Versuche, schwanger zu werden, und fünf Fehlgeburten lagen hinter ihr. Sie bekam ihre ersten beiden Kinder, einen Jungen und ein Mädchen (Zwillinge), durch eine Samenspende. Die Brit Mila ihres Sohnes war der Gründungsakt für ihre neue Familie.

Ihre Schwester, die auch auf dem Foto zu sehen ist, brachte auf die gleiche Weise Zwillinge zur Welt. Der fromme Mann, der das beschnittene Baby in seinen Händen hält, ist ihr Bruder. Sie erzählte mir, er habe ihre Entscheidung ohne irgendwelche Probleme akzeptiert, genau wie der Rest der Familie, von der sie große Unterstützung erfuhr. Ihr Vater zögerte anfangs, doch dann redete er mit den Tanten, und sie bestätigten, dass es seiner Tochter guttun würde. Sie sagten: »So ist das Leben heute eben.«

homosexualität Je mehr ich über das Thema nachforschte, Menschen interviewte, Blogs und Diskussionen in Internetforen verfolgte sowie die neuen Kinderbücher zu diesen Themen las, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass es auf eine Frage keine eindeutige Antwort gab: Hat die Akzeptanz alternativer Familienmodelle auch die Saat zu einer echten Akzeptanz von Homosexualität und sexueller Freiheit gesät? Meine Zweifel wurden bestärkt, als ich mit meiner Cousine sprach. Sie erzählte mir von ihren (über drei Jahre hinweg erfolglosen) Versuchen, ein Kind mit einem homosexuellen Mann zu zeugen.

Sie hatte ihn als geeigneten Vater für ihre künftigen Kinder auserwählt, doch ihre Eltern hießen ihre Wahl aufgrund seiner sexuellen Orientierung nicht gut. Es fiel ihnen viel leichter, die Idee einer Samenspende zu akzeptieren. Auch wenn das bedeutete, dass die Kinder ohne Vater aufwachsen würden. Ähnlich gelagert war der Fall bei der Mutter in der Fernsehfolge, die ihrer Tochter Mut machte: »Alles, was wir möchten, ist, dass du ein Kind bekommst.« Doch gegenüber einem Anwalt brachte die Mutter ihre Angst zum Ausdruck, die sexuelle Neigung des schwulen Vaters könnte sich auf das Kind übertragen – ihren künftigen Enkelsohn.

kindeswohl Nirgendwo stieß ich auf eine Diskussion über Liebe und Sex. Bei der Fernsehsendung hatte ich den Eindruck, dass sich die Diskussion über die Frage »Was ist das Beste fürs Kind?« geändert hatte.

Angesichts der hohen Scheidungsraten ist es wahrscheinlich, dass heutzutage die meisten Kinder, denen gesagt wurde, ihre Geburt sei »das Happy End« der Liebesgeschichte ihrer Eltern, später Trennung und Enttäuschung erleben werden und dieses Märchen, genau wie die Vorstellung von einem Leben mit zwei liebenden Elternteilen in einem Zuhause aufgeben werden müssen.

So gesehen, wäre es vielleicht sogar besser für sie, wenn die Liebe der Erwachsenen, die ihr Leben mit ihnen teilen, ganz außen vor bliebe und sie von Anfang an lernten, wie es ist, in zwei getrennten Elternhäusern zu leben.

Eigene biologische Kinder zu haben, scheint also das Recht und vielleicht auch die Pflicht eines jeden Erwachsenen im Israel des Jahres 2012 zu sein. Die Menschen geben sich alle Mühe, ihre Vorurteile abzubauen und neue Lebensweisen zu akzeptieren. Ein Leben ohne Kinder bedeutet – selbst im Falle eines Menschen mit einer fordernden Karriere und vielen sozialen Kontakten –, dass das Verhältnis des Betroffenen zur Gesellschaft infrage gestellt ist.

Meine Cousine, eine gebildete Frau mit einem kreativen Beruf, versuchte, diese Gefühle in Worte zu fassen: »Bevor ich Kinder hatte, hatte ich keine Verbindung zur Welt. Ich hatte das Gefühl, dass etwas fehlte, und ich fühlte mich isoliert. Nach der Geburt des Kindes hatte ich das Gefühl, dass die Gesellschaft mich wieder akzeptierte.« Sie wiederholte den Gedanken zweimal, und es schien ihr immer noch nicht genug, um zum Ausdruck zu bringen, wie wichtig es für sie war. »Wenn du keine Kinder hast«, schloss sie, »existierst du nicht!«

Sara Shilo wurde 1958 in Jerusalem geboren. Ihre Mutter ist irakischer, ihr Vater syrischer Herkunft. Shilo arbeitete zunächst als Sozialarbeiterin in Ma’alot, wo sie ein Puppentheater gründete. 2005 erschien ihr Roman »Zwerge kommen hier keine«, der in Israel monatelang auf der Bestsellerliste stand. Sie ist verheiratet und hat fünf Kinder.

Die Autorin wird kommende Woche an den deutsch-israelischen Literaturtagen vom 25. bis 29. April in Berlin teilnehmen. Das Thema des vom Goethe-Institut und der Heinrich-Böll-Stiftung veranstalteten Treffens heißt »beziehungsweise«. Zehn Literaten aus beiden Ländern werden aus ihren Texten lesen und über Familienbilder und Beziehungsmuster in Israel und Deutschland sprechen. Ergänzt werden die Lesungen durch eine Filmnacht und eine politische Diskussion.

www.goethe.de/literaturtage

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