Kino

Der Chefankläger

Ein alter Herr betritt mit jugendlich-federndem Schritt den Vorraum zu jenem Gerichtssaal, in dem einst die Nürnberger Prozesse stattfanden. Die junge Angestellte am Einlass begrüßt er gut gelaunt mit den Worten: »Ich bin ein alter Kriegsverbrecher. Darf ich hier rein?«

Natürlich darf er: Benjamin »Ben« Ferencz hat im Schwurgerichtssaal des früheren Nürnberger Justizpalastes sozusagen Hausrecht. Im Gerichtsaal 600 sorgte er ab 1947 als Chefankläger dafür, dass 24 Offiziere der sogenannten Einsatzgruppen, denen eine Million Juden zum Opfer fielen, verurteilt wurden. Das Verfahren in Nürnberg, das sich am 20. November zum 70. Mal jährt, war laut Ferencz der größte Mordprozess der Geschichte und »setzte einen Geschwindigkeits- und Urteilsrekord, der hoffentlich nie gebrochen wird«.

Bin Laden Jene Angeklagte, die dem Strang entkamen, mussten in der Bundesrepublik allerdings nicht lange in Haft bleiben. Kaum einer von ihnen musste seine ohnehin nur geringe Strafe in voller Länge absitzen. Die Amerikaner sorgten immerhin dafür, dass rund 1000 KZ-Wächter ohne zeitraubende Formalitäten in Dachau zum Tode verurteilt wurden.

Ferencz zuckt mit den Schultern, wenn er heute an diese improvisierten Gerichtsverfahren denkt. »Es waren Überzeugungstäter. Aber der Prozess ist nichts, worauf man stolz sein könnte. Darüber haben wir heute diskutiert, anhand der Tötung bin Ladens. Soll man warten und ihm den Prozess machen oder ihn erschießen? Eine schwierige Frage: Wo ist die Gerechtigkeit? Frag mich nicht, ich weiß es nicht. Hört einfach auf, Krieg zu führen!«

Wenn es um Krieg geht, wird Ferencz energisch und grundsätzlich. »Der Krieg korrumpiert die Menschen, egal welcher Nationalität«, weiß der 95-Jährige. »Der Akt des Krieges macht aus Menschen Mörder! Und sie glauben, sie sind Helden, je mehr sie töten.«

Kondition Ullabritt Horns Film A Man Can Make a Difference, der zurzeit in deutschen Kinos zu sehen ist, erteilt keinen Geschichtsunterricht, indem er Benjamin Ferencz als bloßen Zeitzeugen über seine Rolle als Chefankläger in den Nürnberger Prozessen oder von seinem jahrzehntelangen Bemühen für die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs berichten lässt. Der Dokumentarfilm ist vor allem die Begegnung mit einem Mann, dessen Radikalität 80 Jahre jüngere Menschen wie abgeklärte Pensionäre erscheinen lässt. Auch in körperlicher Hinsicht ist Ben Ferencz jung geblieben.

Verblüfft werden die Kinobesucher Zeuge, wie er – im Wintermantel und mit Revoluzzer-Schirmmütze – beim Spaziergang in Washington plötzlich und mühelos in schnellen Trab fällt. Die erstaunliche Kondition des 95-Jährigen ist das Ergebnis harter Arbeit: Täglich macht er 20 Kniebeugen und stemmt mit jeweils einer Hand 25 mal 25 Pfund.

Sein legendärer Kampfgeist wurde Ferencz offenbar in die Wiege gelegt. »Ich war ein winziges Baby, mit einem großen Kopf und kurzen Armen und Beinen, und sie dachten, ich würde nicht überleben, und es hätte keinen Sinn, für eine Beschneidung zu zahlen, die ein Huhn kostete. Und so warteten sie 30 Tage, bevor ich beschnitten wurde. Ich habe es als jüdischen Optimismus gedeutet«, sagt Ferencz heute. Und so, wie der kleine Benjamin entgegen jeder Chance ums Überleben kämpfte, so streitet der Jurist bis heute darum, dass Staaten und Völker ihre Konflikte anstatt mit Angriffskriegen auf zivilisierte Art und Weise vor einem internationalen Gericht regeln.

Veränderung Die Botschaft des jungen alten Mannes ist klar: »Was für eine Welt wollen Sie? Wollen Sie eine Welt, die jeden Augenblick explodieren kann? Wenn Sie eine solche Welt nicht wollen – tun Sie etwas! Und ich glaube, das können Sie!«

Nach der mitreißenden 90-minütigen Begegnung mit Benjamin Ferencz ist man versucht zu sagen: »A Film Can Make a Difference.«

Columbia University

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