»Ich danke für den Preis, und nehme ihn auch als Unterstützung. Es ist nicht einfach, solche Filme wie meinen in einem Land wie Israel zu machen.« Auch die riesige Kulisse der mittelalterlichen Piazza Grande von Locarno schüchterte Nadav Lapid nicht ein. Vor bald 8.000 Zuschauern stand der 36-jährige Regisseur und hielt scheinbar unbeeindruckt eine kleine Ansprache.
Gerade hatte er im Wettbewerb der Filmfestspiele mit dem Spezialpreis der Jury einen Silbernen Leoparden für sein Spielfilmdebüt Hashoter gewonnen. Ein verdienter Preis in einem starken Wettbewerb, denn Hashoter, übersetzt »Der Polizist«, ist ein überaus reifer, konzentrierter, bis zum letzten Moment spannender Film. Stilistisch konsequent und souverän inszeniert, ist er aktuell und in vieler Hinsicht provokativ.
korpsgeist Zunächst lernt man einen Mann, Yaron, näher kennen. Seine Frau ist schwanger, ein naher Freund und Arbeitskollege hat Krebs. Irgendwann begreift man, dass Yaron Angehöriger einer Anti-Terror-Spezialeinheit ist.
Man sieht ihn und seine Kollegen – eine verschworene Truppe, mit den Macho-Ritualen eines Männerbundes, dessen Angehörige sich in Todesgefahr aufeinander verlassen müssen. Und auch in anderen Situationen. Da werden im schmutzigen Krieg gegen den Terror unbeteiligte Zivilisten getötet, es gibt eine Untersuchung, doch die Wahrheit, die man nur ahnen kann, wird gemeinsam verschleiert.
Nach etwa der Hälfte des Films wechselt die Perspektive: Nun porträtiert der Film Shira, Bürgertochter und Aktivistin der radikalen Linken, die gemeinsam mit ihren Genossen zur Gewalt greift. Aber zunächst redet sie nur: »Der jüdische Staat ist ein böser Staat. Wir sind die Töchter und Söhne des hässlichen Israel, geboren in einem grausamen, rassistischen, gewalttätigen und ignoranten Staat.« Ähnlich wie der Polizeieinheit folgt der Film nun den jungen Radikalen. Man sieht normalen Alltag, dann wieder die Vorbereitung einer »Aktion«, und ahnt, dass die zweite Gruppe irgendwann auf die erste treffen muss.
Lapid zeigt das Innenleben sowohl der Polizisten wie der Aktivisten: beim Essen, mit ihren Familien, beim Flirten und beim Sex, beim Ausgehen. Hashoter ist voller kleiner schöner Szenen, von denen jede sehr durchdacht ist; nur ganz selten wirkt alles etwas konstruiert. Dafür gibt es viele feine, sehr präzise Verweise auf die wirtschaftliche Lage in Israel oder den juristisch umstrittenen Fall von Mordechai Vanunu, des israelischen Atom-Whistleblowers. Zum brutalen Showdown wird die Geiselnahme dreier Multimillionäre durch die jungen Terroristen. Yarons Einheit muss die Geiseln befreien, und am Ende erschießt Yaron Shira – der Zuschauer bleibt mit vielen widersprüchlichen Gedanken zurück.
familie Einen ganz anderen Aspekt jüdischen Lebens beleuchtet der argentinische Dokumentarfilm Papirosen, der in Locarno ebenfalls Premiere hatte. Regisseur Gastón Solnicki zeigt ein vielschichtiges, auf mehreren Ebenen miteinander verwobenes Porträt seiner Familie, dessen Grundlage 180 Stunden Filmmaterial bilden, darunter alte Super-8-Filme, die seit den 50er-Jahren entstanden. Zwei Menschen spielen die Hauptrollen in dieser Dokumentation.
Zum einen Solnickis 1927 geborene Großmutter Pola, die 1948 aus Polen emigrierte. Der Schatten der Schoa lag über ihrem Leben, weitere Tragödien folgten. 1979 erhängte sich ihr Mann im Badezimmer, weil er die Angst vor der Militärdiktatur nicht aushielt. Die zweite Hauptfigur ist Polas ältester Sohn, Victor, der Vater des Regisseurs. Er wurde ein wohlhabender Geschäftsmann, verarmte aber in der Krise von 2001.
Der 1945 geborene Victor hängt den Erinnerungen an seine frühe Kindheit in Osteuropa nach und kümmert sich rührend um seine alte Mutter. Immer wieder überschreitet Solnickis origineller Dokumentarfilm, der vor allem sehr inspiriert mit jahrzehntealtem Filmmaterial umgeht, die private Ebene.
Indem er Eltern und Kinder zeigt, die sich streiten und versöhnen, lieben und hassen, wird er zu einer Erzählung über das spezifische Schicksal einer bürgerlichen, europäisch geprägten Familie zwischen alter Tradition und neureichem Lifestyle – und zu einer Betrachtung universaler Gefühle, der Liebe und des Zusammenhalts zwischen den Generationen. Intim, subtil, sehr offen, aber nie voyeuristisch enthüllt Solnicki die Gespenster, die seine Familie jagen und quälen – so mündet Papirosen in eine repräsentative Darstellung jüdischer Identität im 20. Jahrhundert.