Interview

»Der Aufklärung sind Grenzen gesetzt«

Feiert am 1. Juni seinen 80. Geburtstag: der Historiker und Politikwissenschaftler Julius H. Schoeps Foto: Margrit Schmidt

Am 1. Juni feiert der Historiker und Politikwissenschaftler Julius H. Schoeps seinen 80. Geburtstag. Im Interview blickt er auf seine Projekte und aktuelle Aufgaben, das Verhältnis von Juden und Nichtjuden, Antisemitismus, Restitution von Kulturgütern und den Ukrainekrieg.

Herr Schoeps, welche Ihrer zahlreichen Projekte waren aus heutiger Sicht die bisher wichtigsten für Sie?
Das ist schwierig zu beantworten, denn jedes Projekt hatte seinen eigenen Reiz. Da war das Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte in Duisburg, das Jüdische Museum der Stadt Wien, das Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäische jüdische Studien in Potsdam und die Moses-Mendelssohn-Akademie in Halberstadt. Das sind alles Gründungen, an denen ich mich versucht habe.

Um welche dieser Aufgaben haben Sie sich besonders gerne gekümmert, oder welche steht Ihnen am nächsten?
Im Augenblick ist es wohl Halberstadt. Wir haben an dem Standort aktuell fünf Häuser, die restauriert und umgebaut wurden. Das Berend Lehmann Museum für jüdische Geschichte und Kultur ist jetzt in der Gemeindemikwe, dem jüdischen Ritualbad, untergebracht. Das ist eine sehr reizvolle Geschichte, denn hier in dieser Gegend liegt einer der Ursprünge des deutschen Judentums: Halberstadt, Braunschweig, Seesen mit dem Jacobstempel, der ersten Reformsynagoge weltweit, und auch Wolfenbüttel. Dort hat die Moses-Mendelssohn-Stiftung die ehemalige Samsonschule erworben.

Die ehemalige jüdische Schule, zu deren Absolventen im 19. Jahrhundert auch der Mitbegründer des Reformjudentums, Leopold Zunz, gehörte und die 1928 geschlossen wurde.
Ja. Die Schule ist derzeit im Umbau. Es werden dort ein Studentenwohnheim und ein Dokumentationszentrum entstehen.

»Das Erbe Moses Mendelssohn ist mir sehr wichtig und hat mein Leben geprägt.«

Zu Ihren Vorfahren gehört der Philosoph und Aufklärer Moses Mendelssohn. Was bedeutet Ihnen dieses Erbe?
Das ist sehr wichtig und hat mein Leben geprägt: die Aufklärungsphilosophie Mendelssohns, der Toleranzgedanke und sein berühmter Spruch »Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun - das ist die Bestimmung des Menschen« - dieser Spruch ist ein Leitmotiv in meinem Leben. Die Moses-Mendelssohn-Stiftung, der ich gegenwärtig vorstehe, hat über 20 Studentenwohnheime in Deutschland und Österreich bauen lassen, die nach unterschiedlichen Persönlichkeiten aus der deutsch-jüdischen Geschichte benannt sind. Das ist eine Form des Erinnerns und Gedenkens. Und an jedem dieser Häuser ist dieser Satz Mendelssohns angebracht. Ich hoffe sehr, dass jedem Studenten, der dort untergebracht ist, sich dieser Satz einprägt.

Sie haben ein Buch geschrieben über den »Mythos« Preußen. Und Sie haben einmal gesagt, dass Sie als Berliner während Ihrer Zeit im Rheinland mit der Region fremdelten.
Das war mein Bauchgefühl. Ich habe 20 Jahre im Rheinland gelebt, aber das war nicht die Region, in der ich mich sonderlich wohl gefühlt habe. Meine Familie stammt aus Berlin und Brandenburg, und dahin hat es mich immer hingezogen. Das hängt mit Sprache, Kultur und Landschaft zusammen, die prägend sind.

Haben Sie als Folge dieses Zugehörigkeitsgefühls das Preußen-Buch geschrieben?
Vielleicht ist es der Einfluss meines Vaters, Hans-Joachim Schoeps, der Historiker war und sich mit der preußischen Geschichte beschäftigt hat. Das möchte ich nicht ausschließen.

Sie haben 2020 das Große Bundesverdienstkreuz auch wegen Ihrer Verdienste um das Verhältnis von Juden und Nichtjuden erhalten.
Mich hat immer die Beziehungsgeschichte zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen Juden und Christen interessiert. Damit habe ich mich mein Leben lang beschäftigt, und über dieses Thema habe ich zahlreiche Bücher geschrieben. Zuletzt ist dazu von mir erschienen »Im Kampf um die Freiheit - Preußens Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848«. Das sind die Fragen, die mich interessieren.

»Der Antisemitismus ist wieder im Aufwind. Das macht mir große Sorgen.«

Wie ist es denn heute aus Ihrer Sicht um das Miteinander von Juden und Nichtjuden in Deutschland bestellt?
Das ist im Augenblick sehr problematisch. Der Antisemitismus ist wieder im Aufwind. Das macht mir große Sorgen.

Was muss passieren, damit Antisemitismus eingedämmt wird?
Es gibt nur eine Möglichkeit: Aufklären, Aufklären und Aufklären. Wobei jeder wissen sollte, dass der Aufklärung Grenzen gesetzt sind. Denn wer ein Vorurteil hat, ist mit diesem Vorurteil bestens zufrieden und möchte gar nicht von diesem befreit werden. Das ist eines der großen Probleme, die mich gegenwärtig umtreiben, und über das ich gegenwärtig nachdenke, wie man damit umgehen soll. Wir müssen uns wohl damit abfinden.

Ein anderes Thema, das Sie beschäftigt, ist die Restitution, also die Rückgabe von geraubten oder enteigneten Kulturgütern im Nationalsozialismus an die rechtmäßigen Eigentümer oder Erben. Wo steht Deutschland da heute?
Da muss noch einiges getan werden. Ich plädiere schon lange für ein Restitutionsgesetz, und ich hoffe sehr, dass die gegenwärtige Regierung dazu etwas auf den Weg bringen wird. Restitution von NS-Raubkunst ist sehr schwierig. Manche Museen haben Probleme damit, Bilder aus ihrem Besitz an die einstigen Besitzer beziehungsweise deren Erben zu restituieren.

Welche Bedeutung hat vor diesem Hintergrund der »Schwabinger Kunstfund« um Cornelius Gurlitt von 2013?
Es gibt ja schon seit 1998 die Washingtoner Erklärung. Es werden allgemein immer wieder Restitutionsfälle diskutiert - nur das öffentliche Interesse an diesen Fällen lässt nach. Das ist sehr bedauerlich.

Der Fall Gurlitt zum Beispiel stand lange in der Öffentlichkeit.
Was damals passierte, war nicht schön. Auch nicht, dass das Erbe Gurlitts an das Kunstmuseum Bern ging. Seinerzeit hätte man von deutscher Seite mehr machen können. Wobei man Cornelius Gurlitt ziemlich vorgeführt hat: die Beschlagnahmung der Sammlung und dass man ihn vor Gericht gezerrt hat. Das hätte man etwas anders angehen müssen. Man darf auch nicht vergessen, dass nur wenige Bilder der Sammlung als »Raubkunst« anzusehen sind.

»Ich wünschte mir mehr Vernunft und den Willen von Putins Russland, den Krieg zu beenden.«

Lassen Sie uns zum Schluss nach Osteuropa in die Ukraine blicken. In Europa herrscht wieder Krieg. Wie könnte er aus Ihrer Sicht als Historiker und Politikwissenschaftler beendet werden, und welche Konsequenzen sollte Europa daraus ziehen?
Die Jahrzehnte des friedlichen Nebeneinanders sind ganz offensichtlich vorbei. Mir macht gegenwärtig große Sorgen, was in der Ukraine im Augenblick passiert. Es ist einiges ins Rutschen geraten. Geopolitische Erwägungen und Machtfragen spielen die entscheidende Rolle. Ich wünschte mir mehr Vernunft und den Willen von Putins Russland, den Krieg zu beenden. Es wäre zu wünschen, dass die Politiker Russlands und der Ukraine aufeinander zugehen und nach einer für beide Seiten akzeptablen Lösung des Konfliktes suchen. Gegenwärtig haben die Militärs das Sagen. Und das kann es nicht sein.

Wie könnte diese Lösung aussehen?
Es gilt, und das ohne Abstriche, das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Wenn die Ukrainer in die EU und in die Nato wollen - bitteschön. Es ist ihre Entscheidung, und nicht die des Herrn Putin in Moskau.

Das Interview mit dem Gründungsdirektor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam und Vorstandsvorsitzender bei der Moses-Mendelssohn-Stiftung führte Leticia Witte.

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