Jud Süß – wer diesen Titel hört, der denkt natürlich an die historische Figur des Josef Süß Oppenheimer, der am 4. Februar 1738 nach einem politischen Prozess in Stuttgart hingerichtet wurde; man erinnert sich an Lion Feuchtwangers weltberühmten Roman, vielleicht noch an andere literarische Verarbeitungen, wie die des Märchenerzählers Wilhelm Hauff, der aus der Geschichte des Aufstiegs eines Außenseiters im Absolutismus einen judenfeindlichen Schundroman machte. Vor allem kommt Veit Harlans antisemitischer NS-Propagandafilm aus dem Jahr 1940 in den Sinn.
archiviert Kaum einer aber denkt an Lothar Mendes. Die wenigsten wissen, dass es vor Harlans perfidem Nazi-Melodram einen anderen Film zur selben Geschichte gab, allerdings von in jeder Hinsicht entgegengesetztem Charakter: Jew Süss, zu weiten Teilen basierend auf Feuchtwangers damals erst neun Jahre altem Roman, gedreht 1934 in England mit einer Handvoll bereits emigrierter deutscher Filmkünstler, unter anderem Conrad Veidt in der Titelrolle. Der Film war seinerzeit ein Erfolg, er lief viele Wochen in England und lag am Ende des Jahres in der Rangliste der Besucherzahlen an sechster Stelle. Auch in den USA kam er heraus.
Doch trotz vieler bemerkenswerter Aspekte und trotz der traurigen Berühmtheit seines Themas ist Mendes’ Jew Süss heute weitgehend vergessen. Weltweit ist er nicht auf DVD erhältlich, es existieren nur noch wenige Filmkopien, unter anderem am Londoner British Film Institute, deren Qualität allerdings in vieler Hinsicht zu wünschen übrig lässt – vor allem die Tonspur ist erbärmlich – und die dringend einer Restaurierung bedürfen. In Deutschland ist dieser seltene Film nur alle paar Jahre einmal irgendwo zu sehen.
Vorigen Herbst etwa zeigte man ihn in Worms bei einem Filmwochenende der dortigen »Nibelungen-Festspiele«. Die haben sich programmatisch der Erkundung deutscher Mythen verschrieben und rechnen zu denen auch den Financier des Herzogs von Württemberg und dessen schillernde Deutungsgeschichte durch knapp drei Jahrhunderte.
Warum aber ist der Film eigentlich derart unbekannt? Ein Hauptgrund liegt in dem langen dunklen Schatten, den Harlans Machwerk rückblickend auf jede Behandlung der Jud-Süß-Figur wirft, sogar noch auf Feuchtwangers Roman. Der Jud Süß von 1940 wirkte seinerzeit wie ein Film gewordener Tötungsaufruf und wurde ganz direkt zum Instrument des Völkermordes: Man führte ihn nachweislich vor KZ-Wachmannschaften und Wehrmachtssoldaten vor, zum Zweck der Enthemmung.
Bis heute steht Harlans Streifen deshalb auf der Liste der »Vorbehaltsfilme«, Werke des NS-Kinos, die zwar nicht verboten sind, aber nur unter Vorbehalt öffentlich vorgeführt werden dürfen, zum Beispiel begleitet durch einen Filmexperten. Diese unselige Wirkungsgeschichte hat auch Mendes’ Film kontaminiert.
sympathieträger Umso wichtiger und spannender wäre es, Jew Süss wieder einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dessen Erzählhaltung ist von der Erfahrung des aufkommenden europäischen Faschismus und besonders den ersten Verfolgungen und Judengesetzen in Deutschland bestimmt. Mendes, der bereits Mitte der 1920er-Jahre nach Hollywood gegangen war – einige Jahre arbeitete er dort für die Paramount, unter anderem mit Ernst Lubitsch –, erzählt die Geschichte von Jud Süß als die eines Opfers bornierter Verhältnisse, der zwischen der absolutistischen Willkür und den reaktionären Württemberger Ständen zerrieben wird.
Geschildert wird zunächst sein Aufstieg am Hof des Herzogs, dann die moralische Korruption der Hauptfigur und ihr Fall, den Süß sehenden Auges aus Schuldgefühl herbeiführt. Den De-facto-Justizmord nimmt er ohne Gegenwehr in Kauf. Antisemitismus erscheint bei Mendes als Opium fürs Volk, als bewusst geschürte Ideologie, mit der die Stände den auch gegen sie gerichteten Affekt der Württemberger Unterschichten auf einen Außenseiter ablenken.
Jew Süss ist ein bewegender Film und keineswegs jene philosemitische Gesinnungsproduktion, als die er gelegentlich beschrieben wurde. Süß ist ein Sympathieträger als moderner Mensch in unmoderner Zeit – Conrad Veidt zeigt ihn als zerrissenen Charakter.
vorbild Auch filmhistorisch ist Mendes’ Werk hochinteressant. Denn Harlans Propaganda war ohne diesen Vorgänger nichtdenkbar. Gut möglich, dass Goebbels die Idee zu dem Stoff sogar durch Mendes kam; nachweislich hat er den Film bald nach seiner Uraufführung gesehen. Quellen belegen, dass der Nazi-Propagandachef erwog, Jew Süss im Reich aufführen zu lassen – allerdings mit einer ins Antisemitische verzerrten deutschen Synchronisation versehen.
Diese Idee verwarf er jedoch wieder. Harlans sechs Jahre später entstandener Film weist jedenfalls in einzelnen Szenen deutliche Parallelen auf, andere verdreht er in ihr Gegenteil. Etwa die Hinrichtungsszene, in der Mendes’ Süß aufrecht und mit dem Schma-Israel-Gebet auf den Lippen stirbt, während Harlans Süß zusammenbricht und um sein Leben bettelt.
Auch Filmwissenschaftler plädieren dafür, Mendes’ Film in Deutschland endlich zugänglich zu machen. Die Berlinerin Claudia Lenssen fordert »eine historisch-kritische, unserer Zeit und unserem Wissen angemessene Auseinandersetzung mit dem ganzen Jud-Süß-Themenkomplex«. Zu dieser gehört Lothar Mendes’ Film untrennbar dazu.