Es ist der 18. Mai 2020. In Frankreich wird der Corona-Lockdown gelockert. Doch Psychotherapeut Philippe Dayan (Frédéric Pierrot) hat andere Sorgen. Während er im Radio die Morgennachrichten hört, die Schulöffnungen verkünden, erscheint ihm ein Mann vor Augen, der nicht mehr lebt. Auf dem Sessel in Dayans Praxis in Paris sitzt auf einmal Adel Chibane, Polizist einer französischen Spezialeinheit. Nach wenigen Sekunden verschwindet er wieder.
Chibane ist ein ehemaliger Patient, den Philippe Dayan (in Staffel 1 der bisher erfolgreichsten ARTE-Serie In Therapie im Jahr 2015 behandelt hat. Durch einen Einsatz nach dem Terroranschlag im Pariser Musikklub Bataclan traumatisiert, hatte der Polizist professionelle Hilfe gesucht. Doch der Analytiker konnte nicht verhindern, dass sich sein Schutzbefohlener wenig später als Freiwilliger melden würde, um in Syrien gegen den »Islamischen Staat« zu kämpfen. Adel Chibane wurde in Syrien getötet.
GERICHT Nun soll Therapeut Dayan auf Betreiben von Chibanes Angehörigen wegen unterlassener Hilfeleistung vor Gericht gestellt werden. Doch damit nicht genug: Dem Analytiker droht auch noch ein Verfahren vor der Ärztekammer.
In einer Anwaltskanzlei, die der Arzt in der ersten Folge von Staffel 2 aufsucht, trifft er seine ehemalige Patientin Inès Dialo (stark und präsent: Eye Haïdara), die nach einer Beratung vor 23 Jahren abgetrieben hat. Nun wirft die Anwältin Dayan vor, ihr ein Kind zu »schulden«.
Eine weitere Schuldzuweisung: Nach einer gescheiterten Ehe-Therapie behandelt der Arzt Robin, den Sohn des Paars. Der macht Dayan für die Scheidung seiner Eltern verantwortlich, desinfiziert sich – unter Corona-Phobien leidend – zwanghaft die Hände und misst den Abstand zum Sessel des Therapeuten mit einem Metermaß aus.
SUPERVISION Damit er vor Gericht besser dasteht, wird dem leidgeprüften Therapeuten nahegelegt, seine Arbeit supervidieren zu lassen – nachdem er mit seiner früheren Supervisorin Esther im Streit auseinandergegangen ist. Widerwillig sucht Dayan die Psychiaterin Claire (perfekt als leidenschaftlich-spröde Analytikerin: Charlotte Gainsbourg) auf – nicht ahnend, dass die Supervision an sein Lebenstrauma rühren wird.
Erneut ist es dem Regie-Duo Éric Toledano und Olivier Nakache (Ziemlich beste Freunde) gelungen, eine Gesellschaft im Brennglas einer Praxis abzubilden und den Sinn von Therapien zu hinterfragen, ohne die Akteure völlig zu demontieren. Dayan, der (in Anlehnung an das israelische Vorbild Betipul) in Staffel 1 beinahe eine Affäre mit einer Patientin eingegangen wäre, gewinnt in Staffel 2 an Sympathien, weil er sich seinen Schwächen stellt (auch wenn sein allzu empathisch-analytischer Blick bisweilen auf die Nerven geht).
Und der Prozess? In Therapie ist ein Plädoyer für Selbstverantwortung und gegen das Moralisieren – mehr darf an dieser Stelle nicht verraten werden.
Die zweite Staffel von »In Therapie« ist vom 7. April bis 19. Mai donnerstags ab 22.30 Uhr auf ARTE sowie in der Mediathek des Senders zu sehen.