Gary Shteyngart findet Berlin toll. Die Stadt, sagt der amerikanische Autor bei unserem Treffen in einem Café in Brooklyn, werde anders als die USA nicht von den Banken und der Hightech-Industrie dominiert. Stattdessen sei hier noch ein unkonventionelles, experimentelles Leben möglich. In Berlin hatte Gary Shteyngart kürzlich sein neues Buch Willkommen in Lake Success vorgestellt, in dem es um die Nachwirkungen des Börsencrashs in den USA geht und das auf Anhieb die amerikanischen Bestsellerlisten stürmte.
Shteyngart war an diesem freundlichen Nachmittag im Mai zum zweiten Mal in Berlin; 2007 lebte er hier als Gast der American Academy am Wannsee, verbrachte aber viel Zeit mit dem Nachtleben in Kreuzberg, im Techno-Klub Berghain und auf Intellektuellenpartys. »Alle in Berlin haben mir damals erzählt, wie sehr sie Juden lieben«, sagt er. »Fast zu sehr.«
HEDGEFONDS Den Nachmittag widmete er in Berlin seinem Hobby: kostbare Armbanduhren. Er besuchte das Berliner Büro von Nomos Glashütte, wo er Uhren anprobierte. »Ich habe schon vor der Wahl von George Bush angefangen, diese Uhren zu sammeln, weil ich dachte, das geht garantiert schief, und ich wollte mich ablenken.« Das mit den Uhren sei eine Familientradition. »Meine Mutter hat meinem Vater zur Hochzeit eine 300-Rubel-Uhr-geschenkt. Das ist vielleicht der Grund, dass ich existiere.«
Cohen, der Sohn eines jüdischen Arbeiters, hat Karriere gemacht – und ist zutiefst unglücklich.
Das Uhrenhobby hat der Autor mit dem Helden von Lake Success gemeinsam, Barry Cohen, dem Hedgefonds-Manager, der eines Tages beschließt, dass er sein New Yorker Leben satthat, seine Kreditkarten und sein iPhone wegwirft und zu einer Reise mit dem Greyhound durch Amerika aufbricht. Dabei kommt Barry auf die Idee, einen »Urban Watch Fonds« für arme schwarze Kinder zu gründen, damit die sich einmal eine Rolex leisten können. »So ticken die Reichen und insbesondere die Hedgefonds-Manager«, sagt Shteyngart. »Die haben noch nie ein schwarzes Kind getroffen, aber sie denken, sie könnten Amerika retten.«
Shteyngart ist, zu Recherchezwecken, ebenfalls in den Greyhound gestiegen und hat sich mit Hedgefonds-Managern in Bars getroffen, wo er bis frühmorgens mit ihnen trank. Hedgefonds, diese Erkenntnis hat er gewonnen, tragen nichts zur Gemeinschaft bei. »Eigentlich sind sie eine Art Steuer, um Reichtum von der Mittelklasse zur Oberklasse zu transferieren.«
Shteyngart wohnt in Manhattan, nahe Gramercy Park — dort lässt er auch Barry mit seiner tamilischen Noch-Ehefrau Seema leben —, wuchs aber in einem armen Viertel im New Yorker Stadtteil Queens auf. Wie Barry. Auch Shteyngart ist mit einer Asiatin verheiratet, seine Frau Esther stammt aus Korea, sie haben einen kleinen Sohn, der – »um Gottes Willen!« – kein Schriftsteller werden soll. Damit erschöpft sich das Gemeinsame.
TRIP »Barry ist die erste meiner Romanfiguren, die anders aussieht als ich, besser, er ist groß und breitschultrig.« (In der geplanten HBO-Verfilmung soll Jake Gyllenhaal ihn spielen.) Und Barry geht gerne auf Leute zu, während Shteyngart sich als schüchtern beschreibt. Der Autor, der gerne lächelt, sieht ein bisschen wie ein Kobold aus, und man weiß nie, was er ernst meint. Da ist die Geschichte mit dem Neuen Testament, das er auf seinen Greyhound-Trip mitgenommen haben will, um nicht als Jude erkannt zu werden.
Geboren wurde Shteyngart in Leningrad, in eine »typisch sowjetische Familie«. Der Vater arbeitete in einer Kamerafabrik, die Mutter war Pianistin. Als er sieben Jahre alt war, emigrierten sie. »Ich wuchs in einer russisch-jüdischen, konservativen Community auf. Wir dachten, okay, wir sind arm, aber es gibt jemanden, der noch ärmer ist. Immerhin sind wir weiß.« Das sei, hat Shteyngart erkannt, typisch für Amerika. »Es reicht nicht, dass es einem gut geht, irgendwem muss es schlechter gehen.«
»Bei einer zweiten Amtszeit von Trump werde ich nach Montreal auswandern«, sagt Shteyngart.
In Queens ging Shteyngart auf eine Hebräische Schule, wo der Unterricht nur zur Hälfte in Englisch stattfand, aber er amüsierte seine Mitschüler bereits mit Satiren auf die Tora. Damals hatte er noch einen russischen Akzent. Den hat er heute verloren. Ist er stolz darauf, als Immigrant erfolgreich zu sein? »Es gibt in Amerika viele Immigranten, die gut schreiben, das ist gar nichts Besonderes«, meint er bescheiden. Und er habe immer schon Schriftsteller werden wollen. »Schon meine Großmutter hat das gefördert. Wenn ich etwas geschrieben habe, hat sie mir eine Scheibe Käse pro Seite gegeben.«
Sein erster großer Erfolg war Super Sad True Love Story, ein Roman, der in einem totalitären, konsumsüchtigen Amerika spielt, ökonomisch von chinesischen Kreditgebern abhängig, gefolgt von der – satirischen – Autobiografie Kleiner Versager. Dabei griff Shteyngart zu einer unkonventionellen Methode der Buchvermarktung: Er ließ ein Promo mit James Franco und Jonathan Franzen drehen. In dem Spot für Lake Success tritt der Schauspieler Ben Stiller als Verkäufer von Schrottanleihen auf.
liberal Barry, der aufs Korn genommene Hedgefonds-Manager, ist mitnichten Shteyngarts Alter Ego. Der Autor ist radikal liberal und das Buch eine böse Satire auf ein New York im Schatten der Wall Street, das sich normal verdienende New Yorker nicht mehr leisten können. »Die Stadt wird davon verschlungen«, sagt Shteyngart. Er selbst allerdings habe sich aus diesem konservativen Kokon herausbewegt, als er auf die Highschool ging. »Dort war mehr als die Hälfte der Mitschüler schwarz. Und nichts öffnet einem die Augen mehr, als Freunde zu haben, die ganz anders sind.«
Sein nächstes Buch spielt in einer dystopischen New Yorker Zukunft, wo die Welt zusammenbricht – und Moskau die neue Macht ist.
Dass Shteyngart ein Kritiker von Donald Trump ist, dürfte nicht verwundern. Er ist seinerseits nicht verwundert, dass Trump gewählt wurde; er kennt das ländliche, weiße Amerika, nicht nur von der Greyhound-Reise, sondern auch, weil er ein Haus in Upstate New York hat. »Ich gehöre zur liberalen Elite, aber ich zahle seit Trump weniger Steuern. Und den Leuten dort, die wirklich arm sind, werden die Sozialleistungen gestrichen«, sagt er. Trotzdem unterstützten sie Trump. Und wenn der wiedergewählt würde?
»Bei einer zweiten Amtszeit werde ich nach Montreal auswandern«, sagt Shteyngart. »Oder nach Kreuzberg, falls die AfD nicht bis dahin die Macht ergriffen hat. Jüdisch zu sein, heißt, immer nach dem nächsten Ort zu suchen, zu dem man fliehen kann.«Nach Russland zurück will er allerdings auf gar keinen Fall. »Ich habe Russland satt; dieses Land hat so viel Unglück über die Welt gebracht«, sagt er. Sein nächstes Buch spielt in einer dystopischen New Yorker Zukunft, wo die Welt zusammenbricht – und Moskau die neue Macht ist: Pax Moscovia. Das wird bestimmt lustig.
Gary Shteyngart: »Willkommen in Lake Success«. Penguin, München 2019, 432 S., 24 €