Der Staat bin ich!» – Dieses berühmte Bonmot des französischen Königs Ludwig XIV. könnte gewiss auch von David Ben Gurion stammen. Jedenfalls entsteht ein solcher Eindruck, wenn man die neue und voluminöse Biografie von Tom Segev über Israels wohl prominentesten Gründervater liest, die zum 70. Geburtstag des jüdischen Staates erschienen ist.
Dabei taucht der Name des Sonnenkönigs in dem Buch gar nicht mal auf, was wohl auch mit dem äußerst frugalen Lebensstil von Ben Gurion zu tun hat. Anders dagegen der von Wladimir Iljitsch Lenin. Denn der russische Revolutionsführer war so etwas wie das große Vorbild von David Ben Gurion.
Aber nicht etwa, weil der 1886 im polnischen Płonsk geborene erste Ministerpräsident Israels ein überzeugter Sozialist oder womöglich Kommunist gewesen wäre. Vielmehr faszinierten ihn Lenins Fähigkeit und Wille, Russland seinen Stempel aufzudrücken. Genau deshalb beschäftige Ben Gurion sich intensiv mit den Mechanismen der Macht im Moskau der 20er-Jahre. Kurzum, «Ben Gurion wollte ein zionistischer Lenin werden», wie Segev es auf den Punkt bringt.
Bolschewik «Ben Gurion handelte als Bolschewik, ohne Kommunist zu sein, als zionistischer Bolschewik», schreibt er ferner und bezieht sich dabei auf gleichlautende Äußerungen von Isser Harel, nach 1952 Chef des Mossad. Damit trifft der Journalist und Historiker zweifellos den Kern des Wesens von Ben Gurion, ohne dabei zu simplifizieren oder zu dramatisieren. Er schildert ihn als einen detailversessenen Mann, der beharrlich und ohne Rücksicht auf sich und seine Umgebung an der Umsetzung einer Idee arbeitete: den Staat der Juden ins Leben zu rufen.
Im Rückblick kann man sagen, dass es damals wohl genau einer solchen Persönlichkeit mit dem Instinkt dafür bedurfte, was machbar war und was nicht, um den Zionismus letztendlich über die Ziellinie zu bringen.
Geradezu emblematisch waren seine omnipräsenten Notizbücher, in denen er selbst als Ministerpräsident und Verteidigungsminister die Zahl der zur Verfügung stehenden Socken in der Armee festhielt. Nichts war ihm zu unwichtig, und wenn es darauf ankam, wusste er Freunde und Gegner gleichermaßen mit seinem Wissen zu überraschen. Zugleich machte ihn diese Haltung auch zu einem Kontrollfreak, der seiner Umgebung mitunter mächtig auf den Geist gehen konnte.
Drama-Queen Zudem vermittelt die Biografie intime und persönliche Einblicke, die nicht wirklich zu dem gängigen Bild eines willensstarken Machers passen. Zum einen sind es die vielen Stimmungsschwankungen, die sich immer wieder in den Tagebuchaufzeichnungen und sonstigen Quellen finden lassen. Mal himmelhoch jauchzend und euphorisch, mal zutiefst depressiv und das Ende der Welt an die Wand malend. Zum anderen hatte er bis ins hohe Alter einige Liebschaften, während seine Frau Paula in mancherlei Hinsicht eher die Rolle einer Ersatzmutter einnahm. Seine leibliche Mutter war früh verstorben, was Ben Gurion zeit seines Lebens beschäftigen sollte. Und so erfährt man, dass seine Gattin ihn stets daran erinnerte, das Zähneputzen nicht zu vergessen.
Ob gewollt oder nicht, Segev zeichnet auf diese Weise auch das Bild einer Drama-Queen. Das hat womöglich einen Grund: Genauso detailversessen wie seinerzeit Ben Gurion ist nämlich auch er selbst in seiner Rolle als Autor. Ganze sechs Jahre hat Segev an diesem Buch gearbeitet und unzählige Dokumente erschlossen, die erstmals überhaupt für die Forschung freigegeben wurden.
Darüber hinaus gibt es eine persönliche Komponente. Als 23-jähriger Student hatte Segev 1968 zusammen mit Kommilitonen den damals 82-jährigen Politrentner im Kibbuz Sde Boker im Negev aufgesucht und interviewt. «Wir fanden einen sehr einsamen Menschen vor», erinnerte er sich noch Jahre später an diese Begegnung. Aber nach wie vor war «HaSaken», zu Deutsch «der Alte», wie er überall in der Knesset, bei der Armee oder in seiner Partei genannt wurde, sehr darauf bedacht, an seinem eigenen Denkmal zu arbeiten.
Kontrollfreak «Ich wusste bereits im Alter von drei Jahren, dass ich niemals an dem Ort, an dem ich geboren wurde, bleiben werde», erzählte er den jungen Studenten. Deswegen habe er es auch nie für nötig gehalten, Polnisch zu lernen, schließlich lautete schon damals sein Ziel Eretz Israel. «Ein drei Jahre alter Zionist, das klingt etwas zu fantastisch für mich», will daraufhin Segev gesagt haben. Doch David Ben Gurion bestand auf der Korrektheit seiner Erinnerung.
Über Jahrzehnte hinweg hatte sich Segev in seinen Büchern immer wieder mit der Person Ben Gurion beschäftigt. Dabei zeichnete er stets ein eher negatives Bild und attestierte ihm nicht nur mangelnde Sensibilität oder gar Ignoranz im Umgang mit den Überlebenden der Schoa, sondern auch rassistische Einstellungen gegenüber Juden aus nichteuropäischen Ländern. Und so überrascht es, dass nun ausgerechnet in dem Werk, das ausschließlich dem Staatsgründer gewidmet ist, die Urteile wesentlich differenzierter und nuancierter ausfallen.
Als einer der sogenannten «Neuen Historiker» war Segev vor über 20 Jahren einer der federführenden Köpfe, als es darum ging, die gängigen Geschichtsmythen Israels zu zerlegen. Doch ist nun auch diese Gruppe in die Jahre gekommen, und vielleicht wurde man ein wenig altersmilde. Was aber gleich blieb, ist die luzide Sprache, die für den Leser definitiv ein Genuss ist.
Tom Segev: «David Ben Gurion – Ein Staat um jeden Preis». Siedler, München 2018, 800 S., 35 €