Aufarbeitung

Der alte Mann und die Morde

Der letzte große NS-Prozess: John Demjanunk (sitzend in der Mitte) vor dem Münchener Landgericht Foto: ddp

Selbst CNN schickte einen Reporter nach München. Der stand Mitte Mai bei strahlendem Wetter vor einem architektonisch durchschnittlichen Bürogebäude im Zentrum der friedlichen bayerischen Landeshauptstadt. Dabei sind die Journalisten des globalen Nachrichtensenders aus Atlanta sonst vorzugsweise dort zu finden, wo Aufruhr herrscht, wo gekämpft wird und Krieg ist. Sie waren auf Kairos Tahrir-Platz, sie tummeln sich in Libyen an der Front vor Bengasi. Aber in München, der Stadt von Bier, BMW und FC Bayern?

Der Grund für den internationalen Medienauflauf war die vielleicht letzte große Gerichtsverhandlung gegen einen NS-Straftäter. Angeklagt war John Demjanjuk, ein 90-jähriger gebürtiger Ukrainer, der 25 Jahre lang US-Bürger war und heute staatenlos ist.

Vom 30. November 2009 an wurde ihm in München vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts der Prozess gemacht wegen vieltausendfachen Mordes im Vernichtungslager Sobibor. Das Urteil am 12. Mai 2011 lautete auf fünf Jahre Freiheitsentzug. Wegen seines Alters und seiner fragilen Gesundheit wurde Demjanjuk jedoch auf freien Fuß gesetzt.

gerichtsreportage Heinrich Wefing, Redakteur der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, hat die Verhandlung von Beginn an verfolgt, wenn auch, wie er zugibt, nicht tageslückenlos. Jetzt, gerade einmal vier Wochen nach der Urteilsverkündung, legt er bereits sein Buch über den »Fall Demjanjuk« vor. Dabei ist das Wort »Fall« doppelbödig gemeint. Denn verhandelt wurden in München implizit auch die skandalös milden Urteile gegen NS-Täter in den ersten 30 Jahren der Bundesrepublik.

Das Genre der Gerichtsreportage ist in den deutschen Medien nicht mehr so häufig zu lesen wie noch in den 1950er- und 60er-Jahren, ganz zu schweigen von der Weimarer Republik, als Sling alias Paul Felix Schlesinger für die Vossische Zeitung berichtete.

Wefings Buch erinnert wohltuend an diese Zeiten. Geschickt und farbig, geradezu spannend versteht er es im ersten Teil, »Der Mann aus der Ukraine« überschrieben, die Herkunft Demjanjuks zu schildern, dessen Jahre ab 1952 in den USA als Arbeiter in einem Autowerk, dann die Recherchen der Amerikaner ab Mitte der 70er-Jahre, schließlich den Prozess gegen ihn von 1986 bis 1988 in Jerusalem.

nacherzählt Rasch aber drängen sich dem Leser Fragen auf. Steht auf diesen mehr als 60 Druckseiten – zieht man die gekonnte Dramaturgie und Wefings Erzähltalent ab –, wirklich etwas Neues, das sich nicht auch in den maßgeblichen Büchern Tom Teicholz’ und des israelischen Demjanjuk-Anwalts Yoram Sheftels sowie in einem Aufsatz von Tom Segev findet? Und: Darf man, als Nacherzähler, wirklich so verfahren wie Wefing, der die Konfrontation zwischen Demjanjuk und Schoa-Überlebendenden in der Jerusalemer Gerichtsverhandlung der 80er-Jahre derart plastisch schildert, als sei er dabei gewesen – was er nicht war?

Der Eile, dem Anschreiben gegen den urteilsnahen Erscheinungstermin ist wohl das oft und am liebsten an den Kapitelenden ziemlich penetrante Pathos zuzuschreiben. Ebenso der konstruktive Rückgriff auf zahlreiche eingestreute rhetorische Hilfsfragen und Überleitungen, die den Eindruck erwecken, als habe die Zeit für Eleganteres gefehlt.

Dafür entschädigen die ausgreifenden Porträts der beteiligten Personen. Etwas kritisch bleibt Wefing gegenüber der Prozessführung des Richters, distanziert skizziert er das ungleiche Verteidigergespann.

reuelos Seit 1977 wurde gegen Demjanjuk ermittelt, elf Jahre saß er in Gefängnissen in den Vereinigten Staaten, Israel, Deutschland. Doch nie nahm er explizit, erklärend oder gar entschuldigend, Stellung zu den erhobenen Vorwürfen und Belegen.

Der Kölner Strafrechtsprofessor und Anwalt der Nebenkläger Cornelius Nestler, dessen Schlussplädoyer auch Wefing als intellektuellen Höhepunkt des Verfahrens bewertet, brachte den Kern von Demjanjuks Schuld auf den Punkt: »Wer in einer konkreten Situation nicht in der Lage war, (den Geboten des Rechtes zu folgen), ist deswegen noch lange nicht entschuldigt, aber er kann auf ein bisschen Verständnis hoffen, vielleicht sogar auf Mitgefühl, wenn er uns erklärt, warum es ihm nicht gelungen ist, das Richtige zu tun.

Und wenn er dabei Reue zeigt, wenn er erklärt, dass und warum es falsch war, was er gemacht hat. … Aber dieser Angeklagte will uns nichts erklären. Er ringt mit keinem Wort um unser Verständnis. Der Starrsinn seiner Lebenslüge und das Schicksal, Verteidiger zu haben, denen nichts anderes einfällt, als die Lebenslüge aufrechtzuerhalten … nehmen dem Angeklagten auch die letzte Chance, dass wir für ihn auch nur ein Jota an Mitgefühl entwickeln.«

Das intellektuelle und moralische Niveau dieses Plädoyers erreichen die Fragen nicht, die Wefing am Ende seines Buchs diskutiert: Was genau waren die Taten des Aufsehers und Gehilfen im Vernichtungslager Sobibor? Wie genau war die Zwangslage Demjanjuks beschaffen? Und kommt dieser Prozess nicht zu spät? Hier wirkt das Nachdenken des Autors nur noch wie Pseudoräsonieren, als Pose.

Heinrich Wefing: »Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess«. C. H. Beck, München 2011, 232 S., 19,95 €

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