Meinung

Der alte Mann und das Mehr

Laura Cazés Foto: Stephan Pramme

Der alte Mann ist verwirrt.

Früher, da war vielleicht nicht alles besser. Aber immerhin durfte man noch reden, wie man wollte. Humor wurde einem nicht krumm genommen, Identität nicht durch Akronyme ersetzt. A Jid is a Jid – und zwar ohne Gendersternchen. Man durfte sich Witze erzählen über kurze Röcke, weite Ausschnitte und, und, und ...

Man war ja unter sich, man konnte sich in aller Ruhe auf die eigenen Neurosen konzentrieren – zumindest in den eigenen vier Wänden, in der eigenen Gemeinde, in der eigenen KolumneA Jid is geblieben a JidBaruch Hashem.

EXOTISCH Und jetzt klopft da das deutsche Fernsehen ans Panzerglas und will wissen, ob es noch etwas Exotischeres gibt als einen normalen Juden. Den mit den Schläfenlocken wollten sie das letzte Mal haben, aber der ist uninteressant geworden, seitdem es nun sogar Netflix-Serien wie Unorthodox und Shtisel gibt.

Nein, eine schwarze jüdische Lesbe muss es jetzt sein, gerne eine mit Behinderung. Sie bezeichnet sich als nicht-binär? Hat ein Elternteil, das zum Judentum übergetreten ist? Sehr schön.

Wie, es gibt tatsächlich hier Juden, die Arabisch oder Türkisch sprechen? Und Farsi? In Deutschland?

Seien wir doch dankbar, dass sich die Gemeinde weiter entwickelt hat.

Der alte Mann will in Ruhe gelassen werden. Was will man eigentlich von uns? Was regen sich alle so auf? Und auch hinter verschlossenen Türen würde man*n ja sagen: Rassismus, auch wenn das alles völlig übertrieben ist, ist wirklich schlimm. Der Neffe, von dem alle wissen, dass er schwul ist und er den Job in der Gemeinde vermutlich deshalb nicht bekommen hat: Das ist schlimm. Die alte Tante, die nicht mehr in die Schul gehen kann, obwohl sie gerne möchte, weil Frauen halt ohne Stufen keinen richtigen Platz in der Synagoge haben: Auch das ist schlimm. Und der Antisemitismus war nie weg gewesen, da sind wir uns doch alle einig. Aber in der Schul, da ist die Welt noch in Ordnung, zumindest für diejenigen, die noch hingehen. Es sind nicht mehr so viele wie früher, aber wenigstens immer dieselben.

ZUKUNFT Sprache hat die Kraft, eine Gemeinschaft zusammenzuführen. Wer weiß das besser als das Volk des Buches? Jiddisch und Ladino hat die Geschichte uns leider genommen, und Ivrit können ja bei Weitem nicht alle. Vielleicht müssen wir eine Sprache finden, die wieder Platz schafft – und das nicht nur für jene, die der Zukunft misstrauisch gegenüber stehen. Denn genau darum geht es ja: um die Zukunft der jüdischen Gemeinden in Deutschland.

Der schwule Neffe geht schon lange nicht mehr hin. Er hat keine Lust darauf, dass sich alle danach den Mund über ihn zerreißen. Er hat aus der Distanz gelernt, dass auch Witze eine kleine Form der Aggression sein können.

Sprache hat die Kraft, eine Gemeinschaft zusammenzuführen. Wer weiß das besser als das Volk des Buches?

Wem das überempfindlich erscheint, möge jetzt kurz mal in sich reinhören und sich fragen, ob er sich nicht vielleicht beim ersten Satz dieses Textes über die Autorin aufgeregt hat. Ist es nicht interessant, wer über wen Witze machen darf und wer nicht?

GEMEINSCHAFT Ein anderer Vorschlag: Seien wir einfach froh, dass der Großteil der jüdischen Community heute in regem Austausch mit der Außenwelt steht. Seien wir dankbar, dass sich die Gemeinde weiter entwickelt hat – auch wenn man uns damals gegen unseren Willen aus dem Shtetl vertrieben hat.

Das kollektive Empfinden ist und bleibt unsere größte Ressource. Diese Stärke ist deshalb so groß und wirkt generationenübergreifend, weil sie auch aus unterschiedlichen Narrativen speist und sogar Kränkungen aushält. Es wird Zeit, dass wir das endlich verinnerlichen.

Die Perspektive des alten Mannes ist nicht die, die den Ton angibt. Sie ist nur eine unter vielen.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025