Wir ehren einen Philosophen, indem wir seine Gedanken nach- und weiterdenken», sagte Hans Jonas. Heißt das im Umkehrschluss, wenn man dies nicht mehr tut, verzichtet man auf vitale Anregungen? Im Falle von Hans Jonas (geboren 1903 in Mönchengladbach, gestorben 1993 in New York) ist die Antwort eindeutig: Ja. Recht still ist es um den Philosophen geworden. Sind seine einst stark wahrgenommenen Überlegungen zu gehaltvoll für eine Epoche hektischer Erregung und Empörung und sofortigen Vergessens im digitalen Sekundentakt?
Hans Jonas’ Philosophie entsprach einem Diktum Hegels: Sie fasste ihre Zeit in Gedanken. Zentral waren Begriffe wie Verantwortung, Fortschrittsabwägung, Umwelt- und Zukunftsethik. 1987 wurde Jonas mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
«Die Utopie, der Versuch, die Normalität der Conditio Humana prinzipiell zu überwinden, führt dazu, die Bedingungen jener Normalität zu zerstören, die Leben heißt. Unbegrenztes exponentielles Wachstum, endgültige Überwindung von Knappheit war die gemeinsame Voraussetzung der technokratischen und der radikal-emanzipatorischen Ideologie.» So fasste damals der katholische Münchner Philosophieprofessor Robert Spaemann in seiner Laudatio Jonas’ Grund-Krisis-Gedanken zusammen.
Im Februar 2018 wird sich Hans Jonas’ Todestag zum 25. Mal jähren. Von seiner 2013 begonnenen und auf elf Einzelbände veranschlagten Kritischen Gesamtausgabe liegen bisher fünf Bände vor.
Quellen Nun legt der 1973 geborene Historiker Jürgen Nielsen-Sikora, der seit 2014 das Hans-Jonas-Institut an der Universität Siegen verantwortet, die erstaunlicherweise erste umfassende biografische Darstellung überhaupt vor. Darin stützt er sich auf bisher unveröffentlichte umfangreiche Korrespondenzen, die heute im Stadtarchiv Mönchengladbach und im Archiv der Universität Konstanz am Bodensee aufbewahrt werden. Anhand dieser Quellen kann er so manche kolportierte Einschätzung ergänzen oder korrigieren. In erster Linie Jonas’ kokettes Bonmot, dass er an «Epistolophobie» leide, am starken Widerwillen, Briefe zu schreiben. Vor allem die dicken Konvolute, die er über viele Jahre hinweg mit dem Wiener Technikphilosophen Günther Anders und mit Gershom Scholem in Jerusalem wechselte, sprechen eine ganz andere Sprache.
Entsteht Philosophie in Klausen, fern der Alltagswelt? In elitären Wissenschaftseinrichtungen? Spielt das Biografische dabei überhaupt eine Rolle? Ist sie erhellend? Oder ist das Denken zu einer gewissen Zeit nicht tatsächlich auf das Engste mit eben dieser speziellen Lebens- und Weltzeit verbunden? Eine biografische Grundfrage: Sozial- und Mentalitätsgeschichte hier, geisteswissenschaftliches Vorgehen da.
Heidegger Nielsen-Sikora beantwortet die Frage nach dem Zusammen- und Gegenspiel von Philosophie und spezifischer Individualitäts- und Milieuerfahrung mit einer Spiegeldarstellung. Sein Buch hat er in zwei nahezu gleich lange Teile geteilt. In der ersten Sektion schildert er Entwicklung und Lebensstationen. Jonas entstammte einer Unternehmerfamilie, die eine Weberei betrieb, ab 1896 in München-Gladbach, dem heutigen Mönchengladbach, das, da Textilzentrum, «Manchester des Rheinlands» hieß. 1938 musste die Firma Jonas weit unter Wert verkauft werden.
Die Atmosphäre in der Familie war liberal-konservativ und von hohen Leistungsanforderungen durchdrungen. Als Jugendlicher war Hans Jonas Zionist. 1921 begann er ein Studium der Philosophie und der Theologie in Freiburg im Breisgau bei Edmund Husserl und dessen Schüler Martin Heidegger. Weitere Stationen waren Berlin, Marburg und Heidelberg. Freundschaften ergaben sich zu Günther Anders, Hannah Arendt und Dolf Sternberger. 1928 wurde Jonas bei Heidegger über die Gnosis promoviert, ein Thema, das lebenslang im Zentrum seines Denkens stehen sollte. 1935 nach Palästina emigriert, kämpfte Hans Jonas im britischen Heer, ging 1949 nach Kanada, wurde Professor und wechselte 1955 nach New York, wo er lange an der New School for Social Research lehrte.
Ethik In der zweiten Hälfte des Buches stehen die öffentliche Person und die Diskussion des Werks im Mittelpunkt. Nielsen-Sikora geht ausführlich auf Jonas’ Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung von 1979 ein, dessen Lektüre – man denke nur an den Untertitel «Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation» – heute mehr denn je lohnt.
Jürgen Nielsen-Sikora ist eine profunde, informierte und gut lesbare Darstellung gelungen, auch wenn er weitgehend auf stilistisches Funkenwerk verzichtet. Es ist mehr als eine Einladung, sich von neuem auf Hans Jonas’ Welt-Ethos-Philosophie einzulassen, sie ehrend nach- und weiterzudenken. An der Zeit wäre es.
Jürgen Nielsen-Sikora: «Hans Jonas. Für Freiheit und Verantwortung». Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2017, 344 S., 39,99 €