Vor der Corona-Krise war die Demokratiezufriedenheit auf ein Rekordtief von 40 Prozent abgesackt. Die rechtsextreme AfD machte Stimmung, die Gesellschaft stritt über den Klimawandel, die Medien diskutierten, ob die Große Koalition noch eine Zukunft hat.
Zuletzt war das politische Klima rauer, das soziale Klima kälter, die Winde stürmischer und die Gemüter hitziger. Beleidigungen, Beschimpfungen und Drohungen waren an der Tagesordnung. Dann kam, wie aus dem Nichts, das Coronavirus, das wir lange Zeit nicht als weltweite Bedrohung erkannten.
phasen Psychologisch betrachtet, verlief die Krise in fünf Phasen: Erst wurde kräftig verdrängt, dann konsequent verleugnet. Auf die Selbsttäuschung folgte die schmerzhafte Realisierung, dass es sich um eine Pandemie handelt – definitiv zu spät. Erst diese Erkenntnis machte es der Regierung möglich, Maßnahmen zu treffen, die das öffentliche Leben nahezu zum Stillstand brachten und die Grundrechte der Bürger massiv einschränken.
Das Vertraute und das Selbstverständliche haben sich überstürzt verabschiedet und eine große Leere hinterlassen. Wohin mit der Zeit? Und wohin mit sich selbst? Die große Verunsicherung hat uns längst vereinnahmt, und die Sorgen haben uns fest im Griff. Die Angst sucht verzweifelt nach einem Schimmer Hoffnung und klammert sich an jeden Funken Zuversicht.
Fragen kennen keine Antwort, Probleme keine Lösungen. Und so befinden wir uns in der fünften Phase – der Experimentierphase. An dem Souverän, dem Volk, wird die neue Wirklichkeit erprobt, deren Ausgang ungewiss bleibt.
verunsicherung In diesem Zustand allgemeiner Verunsicherung könnten sich vielleicht ein paar Denkanstöße als hilfreich erweisen. Nennen wir sie die Neuen Gebote im Post-Corona-Zeitalter.
Erkenne dich selbst: Viele Menschen gehen sich aus dem Weg und wundern sich, dass sie daheim niemandem begegnen. Sie haben den Schlüssel zu sich selbst verloren oder gar weggeworfen. Sich selbst falsch einzuschätzen und anderen etwas vorzumachen, ist mühsam und kostspielig.
Ein falsches Selbst im falschen Leben ist Stress pur. Die Krise bietet die einmalige Gelegenheit zum Innehalten, vieles zu überdenken und neue Prioritäten zu setzen. Es tut gut, die Beziehung zu sich selbst und zu anderen, zur Arbeit und zu Freunden, auf den Prüfstand zu stellen.
dialog Wer seinem Gegenüber ehrlich begegnen will, muss im Dialog mit sich bleiben. Wer sich selbst im Weg steht, kann den Weg zum anderen nicht finden. Weder in der Krise noch danach.
Zusammenhalt gibt Kraft und schützt vor Stress.
Denke positiv in schlechten Zeiten: Wie wir denken, so fühlen wir uns. Besonders in Krisenzeiten drehen die Menschen daheim im Kopfkino düstere, pessimistische Filme. Stattdessen sollten wir uns in schweren Zeiten gezielt daran erinnern, was wir alles riskiert und gemeistert haben. Selbstlob kann nicht schaden, wenn man in Quarantäne lebt.
Erkenne das Gute im Schlechten: Je länger die Krise andauert, umso notwendiger ist es, die Realität im internationalen Vergleich realistisch zu verorten. Wir haben es gut in Deutschland. Hier geht es uns besser, als wir es wahrhaben wollen. Wir stehen in der Verantwortung. So heißt es in Kohelet 3,12: »Es gibt kein in allem Tun gründendes Glück, es sei denn, ein jeder freut sich, und so verschafft er sich Glück, während er noch lebt.«
grenzen Bescheide dich: Zu erkennen, dass man nicht das Maß aller Dinge ist, hilft bereits weiter. Wer sich bescheiden kann, kann sich glücklich schätzen, wer verzichten kann, macht sich unabhängig, und wer seine Grenzen kennt, kann nicht tief fallen.
Sei a Mentsch: Wir müssen räumlich auf Distanz gehen, aber nicht sozial oder emotional. Abstand halten darf nicht in sozialer Isolation enden. Gerade jetzt brauchen wir einander. Zusammenhalt gibt Kraft und schützt vor Stress.
Übe dich in Gelassenheit: Anstelle gedankenlos zu hetzen, wäre es sinnvoll, anzuhalten. Anstatt sich selbst davonzulaufen, wäre es sinnvoller, sich in Gelassenheit zu üben. Auch das erfordert tägliches Training.
prioritäten Prioritäten setzen: Was werde ich ändern? Welche Prioritäten werde ich setzen? Worauf bin ich bereit zu verzichten? Wofür setze ich mich ein? Welche Welt möchten wir unseren Kindern hinterlassen? Allesamt existenzielle Fragen, die darauf zielen, Gewohntes zu hinterfragen und Neues zu erkunden.
Gedenke: Ist es nicht geradezu tragisch-ironisch, dass uns ausgerechnet eine Plage die Freude an Pessach geraubt hat? In diesen Zeiten ist es ratsam, in die Vergangenheit zurückzublicken: wie tragisch Pessach 1917 im Schützengraben oder 1942 in Auschwitz verlief. Es mag zynisch klingen, aber wir sollten besonders heute auch der schlechten Zeiten gedenken.
Und während wir nun ratlos in unseren vier Wänden verharren, nicht wissend, wann uns das ursprüngliche Leben wiedergegeben wird, dämmert es dem Klugen, dem Bösen, dem Einfältigen und dem Nicht-Wissenden, dass nichts mehr wie früher ist. Nur eines bleibt unbestritten: Weder Glück noch Unglück sind auf ewig. Diese zeitlose Weisheit kannte schon König Salomon.
Der Autor ist Diplom-Psychologe, Stress-Experte, Coach und Buchautor (»Stressless: Das ABC für mehr Gelassenheit in Job und Alltag«).