Rezension

Den richtigen Kurs gefunden

Vom »Kapitän« des Klub der Lustigen und Geschickten zu einer Art russisch-jüdisch-amerikanischem »Don Draper« Foto: imago images/Ronald Grant

Direkt nach Kriegsbeginn Russlands gegen die Ukraine, im Frühjahr 2022, ist im New Yorker Eigenverlag ein hochwertig produziertes und chic gestaltetes Buch mit dem scheinbar weniger bescheidenen Titel »Kapitän« erschienen.

Kapitän von was? Marinekapitän, Militärhauptmann? Oder vielleicht ein Mannschaftskapitän? Eher das Letztere. Juri Radzievsky war einer der ersten und mit Sicherheit der populärste Kapitän einer Studentenmannschaft aus dem noch sowjetischen Riga der 1960er Jahre.

KVN, der Klub der Lustigen und Geschickten, hieß die Dachstruktur. KVN-Teams haben Witze produziert und diese im TV öffentlich performt. Und das live und vor Millionen Zuschauern, neben Mannschaften anderer Universitäten der sowjetischen Großstädte. Der gedanklich schnelle, attraktive russisch-jüdische Mann war ein Superstar.

Auf Chruschtschows Tauwetter folgte wieder politischer Frost

Dann kam nach dem Chruschtschows Tauwetter wieder ein politischer Frost, es war Schluss mit der öffentlichen Popularität der liberalen Kapitäne und ihrer Teams. Der politische und gesellschaftliche Druck nahm zu.

Vor etwas mehr als fünfzig Jahren emigrierte der Kapitän mit seiner Frau Anna – auf einem sowjetischen Juden bestens bekannten Weg - über Wien und Rom in die USA. Nach New York.

Radzievsky präsentierte sein Buch im Mai 2024 in Berlin, unter anderem im Berliner Jüdischen Gemeindezentrum Fasanenstraße.

Mich hat dieses Buch aus verschiedenen Gründen interessiert und zum Teil fasziniert. Radzievsky und seine Frau Anna waren mit ihren Firmen für Jahrzehnte Flaggschiffe des amerikanischen Werbebusiness.  Mit über dreißig, mit einem Kleinkind und ohne Englischkenntnisse, lebten sie ein Leben ähnlich der Serie »Mad Men« (1960-80er Jahre) – inmitten der amerikanischen »Haifische« des Werbegeschäfts.

Radzievskys biografisch gefärbte Businessidee war schlicht – und stark

Radzievskys biografisch gefärbte Businessidee war schlicht – und stark. Übersetzungsarbeit für die Geschäftsdokumentation ist an sich nichts Besonderes, wenn man die Texte einfach gewissenhaft und langweilig eins zu eins übersetzt. Doch wenn man die Marketingstrategien und das Kreative zu den Besonderheiten der jeweiligen Kultur adaptiert, spielt das Produkt plötzlich in einer ganz anderen Liga. Es wird dann von der lokalen Bevölkerung, der man sich schließlich öffnen möchte, geliebt.

Radzievskys Idee war es, das Ganze unter dem Dach einer einzigen Agentur zu bündeln.

Das haben Juri und Anna Radzievsky so auch glänzend umgesetzt. Sie sind Millionäre geworden – das ist keine Konstatierung, eher eine Folge langjähriger Arbeit, rund um die Uhr und einer anhaltenden Kommunikation mit den Kunden. Jahrzehntelang – das höchste Level der Dienstleistung. In einem fremden Land, in dem sie auch mal als »diese Russen« von der Konkurrenz um die Millionenaufträge denunziert wurden.

Bei der Lektüre des »Kapitäns« dachte ich oft an ein anderes wichtiges Buch mit einem noch weniger bescheidenen Titel »Ich. Der Erfolg kommt von innen« (2008) von Oliver Kahn. Der deutsche Kapitän war mit seinem Werk noch etwas konsequenter als der russisch-jüdisch-amerikanische. Kahn hat ein reines Businessbuch mit viel Fußball, viel Autobiografischem, aber ohne die Autoren-Zweifel von Radzievsky verfasst: »Erzähle ich jetzt eine Familiensaga, eine sowjetisch-amerikanische Story oder schreibe ich einen Businessratgeber?« - scheint der russische Kapitän sich selbst gefragt zu haben. Radzievsky hat diese Fragen gewissermaßen offengelassen, Kahn half mit seinem Bestseller vor allem den Managern.

Zögerliches Abwägen

Bei der Lektüre von »Kapitän« dachte ich an Deutschland. Was haben die Gäste des Abends in der Fasanenstraße beim Treffen, was bei der Lektüre des Buches gedacht? Warum haben sich Anna und Juri Radzievsky in den witzigen Klamotten mit der amerikanischen Flagge stolz präsentiert, und in diesem lustig-patriotischen Outfit den Erhalt der US Staatsbürgerschaft gefeiert – und »wir« postsowjetischen Juden reflektieren die ganzen schwierigen »Pros« und »Contras« eines deutschen Passes oder verzichten gar darauf? Spielt ein schneller und empathischer Humor in unserer deutschen Gesellschaft eine positive Rolle oder ist wird er eher als eine Bedrohung für die anderen wahrgenommen?

Die letzte Frage ist leider rein rhetorisch zu stellen.

Was können wir von Radzievskys Buch lernen – für Deutschland, für das Judentum hier?

Dranbleiben, nicht aufgeben, keine Angst haben, sich (die jüdische Community) in den Mittelpunkt stellen, ruhig auf eigene interkulturelle Kompetenzen setzen, und nicht das provinzielle »wir sind schwach und praktisch weg« dauerhaft leben.

Eine schöne Herausforderung!

Lesen Sie »Kapitän«, dort stehen keine finalen Antworten, aber dort werden die richtigen Fragen in einer spannenden und humorvollen Tonalität angesprochen.

Juri Radzievsky, Kapitan / (Kapitän). New York, Yurianna, Inc, 2022. ISBN 978-965-7491-15-7, 432 S. Zahlreiche Abbildungen

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025