Am 7. November 1968 verabreicht Beate Klarsfeld während eines Parteitags in Westberlin Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger mit dem Kampfruf »Nazi! Nazi!« eine Ohrfeige. Erstinstanzlich wird die 29-Jährige dafür zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Am 20. Juli 2015 nimmt Klarsfeld aus der Hand der deutschen Botschafterin in Paris das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse entgegen. Fast ein halbes Jahrhundert liegt zwischen diesen beiden Daten. Aus der Gesetzesbrecherin von einst ist die Würdenträgerin von heute geworden. Eine erstaunliche Laufbahn.
Das Pariser Mémorial de la Shoah widmet der Exildeutschen und Wahlfranzösin und ihrem Mann Serge jetzt eine informative Ausstellung. Leben und Wirken der beiden Erinnerungskämpfer werden darin faktenreich nachgezeichnet, der Fokus liegt auf den Jahren 1968 bis 1978. Am Anfang dieser Zeitspanne begründet die legendäre Ohrfeige, deren Echo seinerzeit vernehmlich durch den Blätterwald und andere Räume der öffentlichen Meinungsbildung schallte, Beate Klarsfelds Ruf. Aber den Beginn ihres Engagements bildet sie nicht.
Kiesinger Dieser lässt sich auf das Vorjahr datieren, als die in Paris beim Deutsch-Französischen Jugendwerk angestellte Sekretärin in der französischen Tageszeitung »Combat« mehrfach die Wahl des baden-württembergischen Ministerpräsidenten zum Bundeskanzler kritisiert. Als ehemaliges Mitglied der NSDAP verkörpere Kiesinger, schreibt Klarsfeld da, »die Respektabilität des Bösen«.
Geharnischte Worte, wie sie die damalige politische Klasse in Bonn gewiss nicht von einem einfachen Tippfräulein zu hören beliebte. Die Strafe folgt stehenden Fußes: Am 30. August 1967 wird Beate Klarsfeld fristlos entlassen. Doch dieser – in ihren eigenen Worten – »Rauswurf« bildet einen Wendepunkt in ihrem Leben und in dem ihres Mannes. Die beiden beschließen, die Kündigung rechtlich anzufechten und Beweise für Kiesingers Nazivergangenheit zu sammeln. 1969 veröffentlichen sie K. oder der subtile Faschismus, eine 64-seitige Studie, die Kiesingers frühen Beitritt in die NSDAP und seinen steilen Aufstieg innerhalb der Rundfunkpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes dokumentiert.
Doch belastende Dokumente zusammenzutragen ist das eine, sie der Öffentlichkeit ins Bewusstsein zu rücken etwas anderes. Mit Kiesinger bringen die Klarsfelds ihre Strategie auf den Punkt, durch einen kurzlebigen Skandal auf einen dauerhaften Missstand aufmerksam zu machen. Sie nutzen die Sensationsgier der Medien, um mittels einer breiten Palette von Protestaktionen – von denen die Kanzler-Ohrfeige bloß die spektakulärste ist – Sendeminuten und Zeitungsspalten zu ergattern. Dabei zögern sie nicht, absichtlich das Recht zu brechen, um so ungleich größeres Unrecht anzuprangern. Während sie selbst für ungenehmigte Demonstrationen oder für Grenzüberquerungen ohne Einreisegenehmigung verhaftet oder gar verurteilt werden, gehen ehemalige NS-Verantwortliche, ja Kriegsverbrecher, in der Bundesrepublik unbehelligt ihren Geschäften nach.
Prozesse Mit Prozessen gegen die SS-Männer Klaus Barbie, Herbert Hagen, Ernst Heinrichsohn und Kurt Lischka suchen die Klarsfelds in den 70er-Jahren der Straflosigkeit von Hauptorganisatoren der »Endlösung« in Frankreich ein Ende zu setzen. Es ist bezeichnend für die Eheleute, dass sie nicht nur detaillierte Dossiers über jeden dieser Verbrecher zusammenstellen, sondern auch den direkten Kontakt mit ihnen suchen. Hagen und Lischka lauern sie vor dem jeweiligen Wohnhaus auf, gegen Barbie protestiert Beate Klarsfeld, indem sie sich vor dessen Bürogebäude in La Paz an eine Bank kettet – Boliviens Militärregime bietet dem Sicherheitsspezialisten lange Zeit Schutz. Anfang der 80er-Jahre kann dann endlich allen vieren in Köln beziehungsweise in Lyon der Prozess gemacht werden. Sie werden zu Gefängnisstrafen zwischen sechs Jahren und lebenslänglich verurteilt.
Die Verfolgung von Naziverbrechern bildet freilich nur einen Teil der konkreten Konsequenzen des Treueeids, den die Klarsfelds den Opfern der Schoa geschworen haben. Ein ebenso wichtiges Anliegen ist es ihnen, denen, die einst ausgelöscht werden sollten, heute eine Identität zurückzugeben, ein Gesicht, eine Stimme. So sammelt Serge Klarsfeld, dessen Vater in Auschwitz ermordet wurde, persönliche Daten, Fotos und Briefe von Deportierten – eine Archivarbeit, dank der er 1978 das über 650 Seiten dicke Mémorial de la déportation des Juifs de France veröffentlichten konnte, das alle 80.000 jüdischen Opfer der deutschen Besatzungszeit auflistet.
Studien Etliche weitere Publikationen, ob Gesamtdarstellungen wie die Chronik Vichy–Auschwitz oder Einzelstudien etwa zu Razzien, vereinen laut Serge Klarsfeld »unbestreitbare und erwiesenermaßen echte Dokumente«. Entstanden sind sie auch in Reaktion auf den Zulauf, den Holocaust-Leugner seit Anfang der 80er-Jahre finden. Der Kampf wider den fortlebenden oder wiedergeborenen Antisemitismus bildet den dritten und letzten Teil des Engagements der Eheleute. Auf Beate Klarsfelds aufsehenerregende und couragierte Protestaktionen in Warschau, Prag oder Teheran in den 70er-Jahren folgen Anfang des neuen Jahrtausends Stellungnahmen gegen judenfeindliche Verlautbarungen des damaligen syrischen Präsidenten Baschar al-Assad oder gegen »die ewige Wiederkehr der extremen Rechten« in Österreich.
Die Pariser Ausstellung listet all diese Initiativen und noch viele weitere auf übermannshohen, bebilderten Wandtafeln auf. Zu lesen gibt es da viel, aber unter dem Strich bietet die Schau doch mehr Knochen als Fleisch – die Zahl der Exponate mit emotionalem Mehrwert kann man an den Fingern einer Hand abzählen. So empfiehlt sich zur Vertiefung des Ausstellungsbesuchs die Lektüre der 2015 bei Piper erschienenen Erinnerungen. Dieser fesselnde Band lässt einem die Klarsfelds als leibhaftige Menschen vor das geistige Auge treten: Sie haben Geldsorgen, bekommen vor gewagten Aktionen Lampenfieber und stellen die ganze Kleinfamilie, Sohn, Tochter und rumänischstämmige (Schwieger-)Mutter, in den Dienst »ihrer« gerechten Sache.
»Beate et Serge Klarsfeld, les combats de la mémoire«. Mémorial de la Shoah, Paris. Bis 29. April.