Herr Ivanir, Sie spielen in der vierten Staffel von »Babylon Berlin« den Gangster Abraham Goldstein, der einem gestohlenen Diamanten hinterherjagt. Ein Klischee?
Mich stört es nicht, einen Gangster zu spielen. Und dass ein jüdischer Gangster in New York zu seiner Familie in Berlin zurückkehrt – darin sehe ich kein Klischee. Es gibt nicht viele solche Geschichten. Als ich das Angebot bekam, habe ich mich gefragt, was mich daran interessiert. Ich habe mir dann bei Amazon den Rath-Roman »Goldstein« auf Englisch bestellt und entdeckt, dass diese Figur sich für ihren Vater und dessen Herkunft schämt. Darauf habe ich diese Rolle aufgebaut, und die Regisseure und Produzenten waren einverstanden.
Gangsterrollen kennen Sie ja …
Okay, Goldstein ist ein Gangster, aber ein jüdischer Gangster aus einer traditionellen jüdischen Familie, aus dem »Schtetl«, das er verlassen und gegen das er rebelliert hat. Er ist ein stylischer Amerikaner geworden – und jetzt, wo er zurückkehrt, um den Tod seines Vaters zu rächen, interessiert ihn weniger der Diamant, als eine Rechnung mit seinem Vater zu begleichen. Es gibt da diese Szene, als sich Goldstein und sein Onkel am Flughafen treffen. Der Onkel ruft: »Avrum Goldstein!« Goldstein widerspricht: »Nicht Avrum, ich heiße Abe Gold.« Goldstein will Amerikaner sein, ein neuer Mensch. Ich kenne das auch aus Israel, ich bin mit der Ideologie des »neuen Juden« aufgewachsen, des wehrhaften Juden – nicht »Fiddler on the Roof«, sondern Palmach und Zahal. Das bringe ich im Film zum Ausdruck: Abe Gold will ein neuer Jude sein.
Das zeigt sich auch in der Szene, als Goldstein am Freitagabend seine Familie im Scheunenviertel besucht. Stand das so im Skript?
Ja, aber ich habe die Idee weiterentwickelt. Bei der Kostümprobe bekam ich eine Zigarettenschachtel aus den 30er-Jahren, eine Uhr aus den 30er-Jahren und eine Kaugummipackung aus derselben Zeit. Ich dachte: »In den 30er-Jahren gab es in Deutschland bestimmt keine Kaugummis, und ich komme also aus den USA und erkläre denen, was Kaugummi ist.« In der Szene wird Goldstein gefragt: »Was machst du in Amerika?« Und er sagt, na ja, alles Mögliche, weil er nicht sagen will, dass er Verbrecher ist. Dann zieht er die Kaugummischachtel aus der Tasche und sagt, das ist mein Business. So entstand meine Lieblingsszene in Staffel vier.
Das ist Ihre Lieblingsszene? Nicht die, als Goldstein Nazis verprügelt und dann fragt: »Wer will noch von einem Juden verhauen werden?«
Die liebe ich auch! Den Satz habe ich hinzugefügt. Dafür gibt es bei mir übrigens einen familiären Hintergrund. Einen Tag, bevor ich zum Dreh nach Berlin geflogen bin, habe ich meinen Cousin in Los Angeles angerufen und ihn nach seinem Großvater Max gefragt. Und er hat mir erzählt, dass Max aus Czernowitz auswanderte und einige Jahre in Deutschland lebte. Um 1935 wurde er auf den Straßen Berlins von Nazis verprügelt. Ich sagte: »Ach so! Ich werde jetzt deinen Großvater – meinen Großonkel – rächen, denn ich werde den Nazis eine reinhauen.« So konnte ich die Geschichte mit Leben füllen.
Das Jiddisch im Film klingt sehr deutsch, ist das Absicht?
Das liegt daran, dass Moisej Bazijan, der in »Babylon Berlin« Goldsteins Onkel spielt, aus Czernowitz kommt – so wie ich. Die Stadt gehörte früher zu Österreich-Ungarn, und das Czernowitzer Jiddisch hatte immer einen starken deutschen Einschlag.
Ihr Großvater hat zu Hause Jiddisch gesprochen …
… aber auch Russisch und Rumänisch. Fast jeden Tag kamen Freunde und Bekannte meines Großvaters zu uns nach Hause, in seinen Kultursalon. Es kamen Schriftsteller, Poeten, Zeichner. Sie redeten, tranken und sprachen Jiddisch. Später ist mein Großvater mit uns zusammen nach Israel ausgewandert. Mir hat einmal ein Bekannter erzählt, er erinnere sich an den Tag, als wir abgefahren sind. Mehr als die Hälfte der Czernowitzer Juden kam zum Bahnhof, um sich von meinem Großvater zu verabschieden – Hunderte von Menschen!
Sie sind in Israel aufgewachsen, haben Militärdienst geleistet und 1991 das legendäre Gesher-Theater russischsprachiger Neueinwanderer mitbegründet. Warum sind Sie nach Los Angeles gegangen?
Wegen Maya, meiner Frau. Sie sagte mir eines Tages: »Ich habe den Eindruck, dass du nicht wirklich zufrieden bist.« Anfangs war ich einer der wichtigsten Schauspieler bei Gesher, ich hatte eine Hauptrolle im ersten Stück »Rosenkranz und Güldenstern sind tot« von Tom Stoppard. Wir haben damals wenige israelische Stücke gespielt, und ich war der Hausübersetzer aus dem Russischen und habe den Schauspielern Iwrit beigebracht. Yevgeny Arye, der legendäre Gründer des Theaters, fand das sehr gut so, aber ich hatte das Gefühl, er wollte mich neben sich sehen – nicht auf der Bühne. Ich habe das erst später verstanden: Mein Stil und mein Talent sind eher kleine Rollen. Ich bin kein theatralischer Schauspieler, aber Arye ist ein großer Fan des Theatralischen. Maya war das von Anfang an klar. Außerdem hat sie sich gefragt, wie sie eine Familie gründen kann, wenn ihr Mann sechsmal pro Woche nach Beit Schean oder nach Zfat fährt, bis ein Uhr nachts auftritt und am nächsten Morgen um sieben oder acht Uhr Leuten Iwrit beibringt. Die »Times« in London hat Gesher als eines der sechs besten Theater der Welt bewertet. Aber irgendwann habe ich keinen Sinn mehr darin gesehen, dass ich so viel für das Theater tue und trotzdem frustriert bin.
Und das Gehalt war bestimmt auch nicht bombastisch …
Davon einmal ganz abgesehen. Wir haben uns entschieden, nach London zu fliegen und ein Jahr Auszeit zu nehmen. Nach eineinhalb Jahren in London bekam meine Frau im Jahr 2000 ein Angebot, in Los Angeles zu arbeiten, als Produzentin für ein Start-up. Wir sind nach L.A. gezogen, dem Start-up ist das Geld ausgegangen, und meine Frau hatte keine Arbeit mehr. Aber in der Zwischenzeit hatte ich Agenten gefunden, und ich bekam meine erste Rolle.
Wer waren Sie?
Ein Möbelpacker in einem Independent-Film. Sehr symbolisch. Die Rolle hat mir ein Freund besorgt, damit ich Mitglied in der Schauspielergewerkschaft SAG werden konnte. Die Voraussetzung war, dass ich in dem Film einige Worte sage. Also hat man extra einen Satz für mich geschrieben.
Was haben Sie gesagt?
Habe ich vergessen. Aber dieser Satz hat mir den Weg geebnet. Wir wollten noch ein halbes Jahr in L.A. bleiben, und daraus wurden fast 24 Jahre, zwei Töchter und ein Haus.
Jetzt ziehen Sie nach New York. Aus beruflichen Gründen?
Nicht unbedingt. Unsere Töchter haben die Highschool beziehungsweise das College beendet und ziehen an die Ostküste. Was die Arbeit angeht, ändert das nicht viel. Als wir nach Los Angeles kamen, war es klar, dass man dort leben musste, wenn man in Hollywood arbeiten wollte. Heute muss man nicht mehr physisch bei den Auditions anwesend sein oder die Produzenten persönlich treffen, es gibt Zoom.
Finden Sie diese Entwicklung gut?
Teilweise finde ich sie traurig, denn das menschliche Element fehlt. Heute ist man eher zu Hause oder am Telefon oder am iPad. Aber natürlich ist es bequemer für mich, wenn ich in New York leben kann, denn ich arbeite auch viel in Europa oder in Israel.
Beeinflusst Sie der Streik in Hollywood?
Zu meinem großen Glück nicht, denn die deutsche Produktion, an der ich mitwirke, hat mit Hollywood und der Gewerkschaft SAG nichts zu tun. Ich kann also drehen, ohne die Streikregeln zu verletzen.
Was ist das für eine deutsche Produktion?
Das darf ich noch nicht verraten.
Würden Sie gern öfters Rollen spielen wie den Geiger Daniel Lerner in »Saiten des Lebens« statt immer wieder russische Gangster?
Die russischen Gangster sind vielleicht in der Überzahl, aber neuerdings spiele ich auch Militärs oder israelische Spione, wie den Chef des Mossad in einer Netflix-Serie oder den Generalstabschef Motta Gur in »Sieben Tage in Entebbe«. Ich komme ziemlich oft nach Israel. Die israelische Filmindustrie ist hochinteressant. Abends, bevor ich schlafen gehe, schaue ich israelische Serien – im Moment »Sovietska«. Neulich habe ich einen Film in Frankreich gedreht, darin spiele ich einen Arzt. Das fand ich witzig, denn mein Vater wollte sehr gern, dass ich Arzt werde. Er ist gestorben, als ich noch in der Armee war. Aber ein paar Monate nach meinem Militärdienst habe ich gemerkt, dass alles, was mir Spaß macht, mit Schauspiel zusammenhing. Ich habe einen Zauberkurs gemacht und Straßentheater gelernt und Akrobatik. Und dann habe ich meiner Mutter gesagt: »Mama, ich werde kein Arzt. Ich werde erst einmal Clown. Einen Arzt kann ich auch spielen.« Sie war einverstanden! Übrigens, in all den Jahren hatte ich nie eine Arztrolle – und jetzt habe ich sogar zwei. Eine in dem Filmprojekt, über das ich noch nicht sprechen darf. Da spiele ich einen Psychiater.
In der vierten Staffel von »Babylon Berlin« werden die beiden Juden im Film auch von Juden dargestellt. Ist Ihnen das wichtig?
Ich persönlich glaube, dass ein Schauspieler alles machen muss. Das ist unser Job, wir spielen mit der Vorstellungskraft. Vorschriften, wie Rollen besetzt werden sollen, finde ich übertrieben. Veränderung ist wichtig, aber die derzeitige Welle der Political Correctness geht, wie ich finde, etwas zu weit. Ich habe einen Freund, der später Regisseur wurde und jetzt in New York lebte. Er erzählte mir neulich, er habe keine Arbeit: »Ich bin ein weißer Mann mit 60 – ich habe keine Chancen.« Anderseits hatte er die letzten 35 Jahre sehr wohl Arbeit in der Filmindustrie – und viele schwarze Schauspieler und viele Frauen hatten keine. Ich selbst habe zum Glück keine Probleme, besetzt zu werden. Im Zweifelsfall kann ich immer Russen spielen – oder sagen: »Wieso nehmt ihr einen Amerikaner als Russen?«
Mit dem Schauspieler sprach Ayala Goldmann.
Die vierte Staffel von »Babylon Berlin« ist ab Freitag, 29. September, in der ARD-Mediathek zu sehen. Am 1. Oktober werden vier Folgen im ARD-Fernsehen gezeigt, am 2., 3. und 4. Oktober laufen weitere Folgen im Free TV.