Was empfehlen Sie mir? Soll ich in Deutschland bleiben, oder soll ich gehen?» Unverblümt sprach Sammy Weinberger, Mitglied der Frankfurter Gemeinde, aus, was im Innersten diese ganze Konferenz bewegte, ihr heimliches Zentrum bildete, um das sich die vielen klugen Analysen, Erklärungen und Handlungsempfehlungen zum neuen Rechtspopulismus wie konzentrische Kreise legten.
«Meine Familie hat 1932 den richtigen Zeitpunkt zum Emigrieren verpasst. Und jetzt sitze ich vor dem Fernseher und sehe die Bilder aus Chemnitz, sehe Hakenkreuz und Hitlergruß, und die Polizei schaut tatenlos zu.» Hajo Funke, emeritierter Professor für Politik und Kultur an der Freien Universität Berlin, dem Sammy Weinbergers Frage galt, versuchte zu beruhigen: «Noch herrschen keine Weimarer Verhältnisse. Wir Demokraten sind die große Mehrheit!»
Dennoch: Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung im Zentralrat und gemeinsam mit Sabena Donath Leiter der Konferenz «Rechtspopulismus und Judenfeindschaft. Kontinuitäten – Brüche – Herausforderungen», die in der vergangenen Woche in Frankfurt stattfand, beobachtet eine «deutliche Tendenzveränderung».
Der Erziehungswissenschaftler hat sich die Ausgaben dieser Zeitung aus den vergangenen drei Jahren angesehen und festgestellt: «Spürbar ist eine gewisse Unruhe, wenn auch noch nicht der Wunsch, die Koffer zu packen.» Besonders deutlich zeige sich das an der Rolle des Vorsitzenden des Zentralrats: «Josef Schuster hat sich von einem sachlich-nüchternen Denker in einen Mahner verwandelt», so die Beobachtung Kiesels.
Vakuum Dass eine Ursache für das Aufkommen des Rechtspopulismus in der aktuellen Schwäche des politisch-administrativen Systems liegt, darüber waren sich alle Experten bei dieser Konferenz einig. Sie führt zu einem schleichenden Vertrauensverlust in Teilen der Bevölkerung, und dieses Vakuum werde durch Populisten aufgefüllt. Denn sie beschwören den Gegensatz zwischen dem moralischen, reinen Volk und den korrupten und parasitären Eliten. «Populisten entscheiden, wer das Volk ist, und präsentieren sich selbst als die Lösung aller Probleme», so Hajo Funke in seinem Vortrag.
Damit böten sie eine Antwort auf die Unzufriedenheit vieler Bürger, die den Eindruck haben, «auf der falschen Spur in ihrem Leben unterwegs zu sein, nicht voranzukommen, und gleich daneben fahren die Eliten, Juden und Flüchtlinge an ihnen vorbei», versuchte Lars Rensmann, Professor für Europäische Politik und Gesellschaft in Groningen, das Gefühl des Abgehängtseins zu beschreiben. «Und von der Verschwörungstheorie ist es nur ein kleiner Schritt zum Antisemitismus», ergänzte Rensmann. Dieser sei ohnehin der Prototyp aller «Fake News»; wer sich auf postfaktische Diskurse einlasse, öffne ihm unweigerlich Tür und Tor. Übrigens glauben rund 60 Prozent der AfD-Wähler, dass der Einfluss der Juden weltweit sehr groß sei.
Perspektive Es war ein Glück, dass Julia Bernstein, die an der Frankfurter Fachhochschule die Professur für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft innehat, kurzfristig für den Konfliktforscher Andreas Zick einspringen konnte. Denn sie schilderte gleich im Anschluss an Rensmann aus jüdischer Perspektive, wie viele Facetten, Nuancen und Ausprägungen der aktuelle Antisemitismus aufweist. Dass sie ihre Ausführungen mit dem Satz «Es tut mir leid, dass Sie gleich so viel Negatives hören werden», einleitete, reichte nicht aus, einen auf das vorzubereiten, was dann folgen sollte.
Bernstein hat jüdische und nichtjüdische Schüler, Studenten, Lehrkräfte und Dozenten befragt. 90 Prozent der befragten Juden sehen den Antisemitismus hierzulande als alarmierend und als großes Problem an, fast genauso viele (70 bis 80 Prozent) empfinden sich persönlich dadurch belastet und bedroht. «Viele haben mir gesagt, dass sie nicht ausreichend geschützt werden, dass sie sich alleingelassen fühlen», berichtete Bernstein. Und auf der anderen Seite die große Ignoranz: «Wir haben nur das Schimpfwort ›Jude‹ an unserer Schule, aber keine Vorfälle», erklärte eine Lehrerin im Interview, spürbar erleichtert. Als ob erst offene Gewalt Anlass zur Besorgnis und vor allem zum Eingreifen sei.
Standards Die Bundesregierung hat eingegriffen und Felix Klein zum «Beauftragten für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus» berufen. Im Gespräch mit Harry Schnabel, Mitglied des Präsidiums im Zentralrat, erläuterte Klein, was er aktuell für am dringlichsten geboten hält: So hat er in einer ersten Reaktion auf die Krawalle in Chemnitz die Einsetzung eines sächsischen Antisemitismusbeauftragten gefordert. Außerdem will er sich dafür starkmachen, einheitliche Standards für das Sammeln, Auswerten und Archivieren von Daten über antisemitische Vorfälle festzulegen sowie Beratungsangebote für deren Opfer zu schaffen.
Und was können wir tun? «Praktische Hilfe im Alltag, mit Rassismus umzugehen», auch das wollte diese Veranstaltung ihren Teilnehmern mit auf den Weg geben, wie Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, die die Konferenz mitorganisiert hatte, in seiner Begrüßung erklärte. Sabena Donath, Leiterin der Bildungsabteilung, verwies auf die Fremdheit, die häufig zwischen Juden und Nichtjuden bestehe, «einfach, weil wir so wenige sind: Man sieht uns nicht, man kennt uns nicht».
Entgegentreten Von der Vorstellung, mehr Wissen über jüdisches Leben, seine Kultur und Traditionen würde zum Abbau von Vorurteilen führen, hielt Julia Bernstein allerdings nicht viel: «Es nützt nichts, wenn wir alle zusammen zu Klezmermusik tanzen.» Vielmehr müssten Lehrer oder andere Verantwortliche Fehlverhalten einfach sofort sanktionieren, jeder verbalen oder körperlichen Attacke entschieden entgegentreten, unabhängig davon, wem sie gelte. «Es muss klar sein: So gehen wir nicht miteinander um, das lassen wir nicht zu.»
Auch Hajo Funke rief zu entschiedenerem Handeln auf. «Wir als die demokratische Mehrheit müssen uns neu organisieren und eine Polarisierung gegen rechts in Gang setzen», forderte er. Zwei Dinge seien dafür aber unabdingbar: «ein glaubwürdiges politisches Personal und ein funktionierender Rechtsstaat».
«Multikulti», das große Projekt der liberalen Gesellschaften, die zumindest theoretisch die «Differenz und Vielfalt» feierten, ist vorerst gescheitert. Markus Funck unternahm es dennoch, Konzepte zu entwerfen, wie ein friedvolles Miteinander funktionieren könne – durch eine «Politik der Anerkennung: Die Mehrheit soll die Minderheit dazu ermächtigen, sich selbst zu organisieren und über die eigene kulturelle Identität zu befinden». Mit Grenzen allerdings: «Inakzeptable kulturelle Praktiken müssen sanktioniert werden.»
Doch wer entscheidet, was nicht hinzunehmen ist? Unweigerlich denkt man an die Beschneidungsdebatte. Gesellschaftlicher Zusammenhalt bei gleichzeitiger Wahrung der Pluralität verschiedener Kulturen und Lebensstile – das bleibt die große Herausforderung der Moderne. Dass die Chancen für dieses Projekt zurzeit nicht zum Besten stehen, war Anlass und Fazit dieser Konferenz zugleich.