Film

Debatte gegen den Tod

Spielt den Islamwissenschaftler Prof. Neuweiser: Ulrich Tukur Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress

Sie sorgt gleich ab Minute eins für ein Unbehagen, diese verrückte, sich autonom bewegende Kamera (Arsenij Gusev). Manchmal schleicht sie durch die Räume, manchmal blickt sie mit Weitwinkelperspektiven gleich einer Überwachungskamera aus den Ecken, zwischendurch zeigt sie Handlungsmöglichkeiten, die die Figuren haben, aber nicht einlösen werden. Und dann wieder lugt sie auf die Ereignisse, als wäre sie selbst ein Wesen, ob ein unsichtbares menschliches oder etwas Höheres, bleibt ein Geheimnis von Jurijs Saules »Martin liest den Koran«.

Wie der Titel erahnen lässt, geht es um das Verhältnis von Weltlichem und Gott, allerdings in seiner fundamentalistischen, durch und durch gegenwärtigen Horrorvariante.

Der Koran lesende Martin (Zejhun Demirov), ein Familienvater, der den Islam seit einem Jahr für sich entdeckt hat, steht plötzlich beim Islamwissenschaftler Prof. Neuweiser (Ulrich Tukur) unter dem Vorwand vor der Bürotür, er wolle eine mündliche Prüfung ablegen. Es blinkt am Rucksack des in einem Handyshop arbeitenden Mannes, denn Martin hat den Zünder für eine bereits deponierte Bombe in der Tasche und will, dass der Professor ihm eine Stelle im Koran zeigt, die explizit verbietet, Menschen zu töten. »Ich möchte nichts Unerlaubtes tun, ich möchte keine Sünde begehen.«

Paranoia-Modus und gewollte Theaterhaftigkeit

Aus dieser Prämisse entspinnt sich ein Film, der sich zwischen exponiertem Paranoia-Modus und gewollter Theaterhaftigkeit zu einem stilistisch subversiven und inhaltlich kontroversen Zweipersonenkammerspiel hochschaukelt.

Martin, der Tabletten gegen Schmerzen schluckt und immer wieder von seiner Frau angerufen wird, liest aus jeder Sure das Kriegerische heraus. Der vom Professor beschworenen »Barmherzigkeit«, die über 700-mal im Koran vorkomme, begegnet Martin mit Passagen wie: »Du sollst nicht töten, außer es geschieht aus einem rechtmäßigen Grund.« Verbunden sind die beiden, wie langsam klar wird, durch einen Terroranschlag, den ein ehemaliger Student des Professors im Jahr zuvor begangen hat.

Lesen Sie auch

»Martin liest den Koran« ist ein kompromissloser Film, der dorthin geht, wo es wehtut. Dass er dabei sogar gegenüber einem Radikalisierten noch an der Wichtigkeit des Miteinander-Sprechens festhält, macht ihn so schmerzhaft menschlich wie kontrovers. Für ihr Drehbuch, das Fragen zu Möglichkeiten von Versöhnung im größten Hass und zu Ursachen einer Radikalisierung stellt, wurden Michail Lurje und Jurij Saule 2022 mit der Lola für das beste bis dato unverfilmte Drehbuch ausgezeichnet.

»Der Sinn verändert sich je nach Situation«, versucht der Professor sein Gegenüber zu beschwichtigen. Martin lese nur, was in seinem Kopf bereits sei.

Ein Stück weit gilt das auch für den Film selbst, der mit den Erwartungen spielt. In »Martin liest den Koran« verschmelzen Genre und Diskurs zu einem Film, der die produktive Polarisierung provoziert.

TV-Legende

Rosenthal-Spielfilm: Vom versteckten Juden zum Publikumsliebling

»Zwei Leben in Deutschland«, so der Titel seiner Autobiografie, hat Hans Rosenthal gelebt: Als von den Nazis verfolgter Jude und später als erfolgreicher Showmaster. Ein Spielfilm spürt diesem Zwiespalt nun gekonnt nach

von Katharina Zeckau  28.03.2025

Patrick Modiano

Tanz durch die Erinnerung

Patrick Modianos Hommage an eine namenlose Tänzerin widmet sich den kleinen Dramen des Alltags, die es zu meistern gilt

von Ellen Presser  28.03.2025

Taffy Brodesser-Akner

Vom Dibbuk im Getriebe

Gleich drei Generationen sind in dem neuen Roman der amerikanischen Journalistin und Autorin ziemlich dysfunktional

von Sharon Adler  28.03.2025

Roberto Saviano

Intrigen und Verrat

Der italienisch-jüdische Autor schreibt sprachgewaltig in zwölf Erzählungen über die Frauen in der Mafia

von Knut Elstermann  28.03.2025

Thomas Mann

König der Emigranten

Martin Mittelmeier beleuchtet Leben und politisches Wirken des Nobelpreisträgers im kalifornischen Exil

von Tobias Kühn  28.03.2025

Assaf Gavron

Weltregierung und Einsamkeit

Erfrischend, erstaunlich, spannend: Zwei neue Erzählungen des israelischen Autors

von Maria Ossowski  28.03.2025

Geschichte

Mehr als die Bielski-Brüder

Der NS-Historiker Stephan Lehnstaedt hat ein erhellendes Buch über den jüdischen Widerstand veröffentlicht

von Alexander Kluy  28.03.2025

Friedl Benedikt

Die Schülerin

Im Nachlass von Elias Canetti wurde die vergessene literarische Stimme einer beeindruckenden Autorin gefunden

von Sophie Albers Ben Chamo  28.03.2025

Lille

Oliver Masucci lernte für Serie Hebräisch

Der amerikanisch-israelische Mehrteiler »The German« hat auf Europas größtem Festival für TV-Serien viel Anerkennung gefunden. Doch der Schatten des Krieges in Gaza und Israel erreichte auch dieses Historien-Drama

von Wilfried Urbe  28.03.2025