Christliche Würdenträger wie Rüdiger, der Bischof von Speyer (von 1074–1090), erhofften sich durch die Ansiedlung der Juden eine Aufwertung ihres Sprengels, ja, zur »Weltstadt« sollte sich Speyer dank der gebildeten und vielfach weitgereisten Neubürger mausern. »Die herbeigeholten Juden siedelte ich deshalb außerhalb der Gemeinschaft und den Wohnplätzen der übrigen Bürger an und umgab ihre Siedlung mit einer Mauer, damit sie nicht durch Viehherden gestört werden«, heißt es in Rüdigers Privileg aus dem Jahr 1084. Der Judenhof von Speyer, wiewohl abgetrennt von der christlichen Stadtgesellschaft, liegt nur wenige Schritte von der trutzigen Kathedrale entfernt: in ihrem Schutz – und zugleich auf Distanz.
Rüdigers Traum von der Weltstadt Speyer war hochgegriffen, doch im Mittelalter bildete die Stadt im Rhein-Neckar-Gebiet tatsächlich ein bedeutendes Zentrum im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – vor allem aber präsentierte sich gemeinsam mit Worms und Mainz die dortige jüdische Gemeinde als die spirituelle, intellektuelle und auch architektonisch bedeutsame Mitte von Aschkenas.
Schpira, Warmaisa, Magenza – die Anfangsbuchstaben der hebräischen Städtenamen bilden das Akronym SchUM, mit dem sich für Rheinland-Pfalz aktuell ein besonderes Projekt verbindet: Endlich werden die jüdischen Stätten des Landes in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen. Die Entscheidung über den Antrag fiel am Dienstag und bedeutet eine Premiere: Erstmals in Deutschland werden jüdische Stätten mit dem Titel ausgezeichnet.
MAGENZA Die Inszenierung von Weltkulturerbe stellt man sich mitunter anders vor. Lautstark und gleichgültig rauscht der Autoverkehr auf der Mainzer Mombacher Straße am Judensand vorbei, dem Friedhof, dessen älterer Teil 1286 erstmals erwähnt wird. Es ist ein eigentümlicher Kontrast, der sich aus den ernsten, aufrecht stehenden Grabsteinen im Schatten der Bäume und dem Getöse des Stadtverkehrs ergibt.
Alles hätte hier noch schlimmer kommen können: Grabsteine wurden im Laufe der Jahrhunderte in Straßen und Brücken verbaut; 2007 wollte die Stadt auf dem Gelände Villen mit Rheinblick errichten. Das Vorhaben scheiterte nicht zuletzt am Einspruch der Mainzer jüdischen Gemeinde, die sich nach dem Holocaust hier wieder etabliert und ihr Gemeindezentrum in der neuen, von Manuel Herz in der Form von fünf hebräischen Buchstaben erbauten Synagoge hat.
Der Mainzer »Judensand« wurde 1286 erstmals erwähnt.
Von der Aufnahme ins Welterbe ist Hilfe zu erwarten. »Die Vermittlungsarbeit wird nach Anerkennung der SchUM-Stätten eine große Rolle spielen«, heißt es auf Anfrage dazu aus dem Innenministerium in Rheinland-Pfalz. »Es wird in allen drei Städten über Welterbe-Informationszentren nachgedacht. Die Stadt Mainz ist da sicher in ihren Überlegungen mit dem im letzten Jahr durchgeführten Planungswettbewerb zur Öffnung und Erschließung des Friedhofs und einem Besucher-Pavillon am Weitesten.«
WARMAISA Ein paar Kilometer weiter in Worms ist es die Bahnlinie Mannheim-Mainz, die zum Westen hin den Heiligen Sand, den ältesten in situ erhaltenden jüdischen Friedhof in Aschkenas mit rund 2500 Grabsteinen begrenzt. Wie beim Pogrom von 1615 war die Ruhestätte immer wieder Ziel von Grabschändungen, Ende des 19. Jahrhunderts versuchten Vandalen, Steine die Böschung hinab auf die Gleise zu werfen – ohne Erfolg.
Doch anders als die Mombacher Straße in Mainz schadet die Bahnstrecke in ihrem tiefen Graben der Ausstrahlung des Ortes nicht: Der Heilige Sand erstreckt sich sanft über Hügel, 1260 wurde der Friedhof von einer Mauer umgeben, die – anders als der Mainzer Maschendrahtzaun – wenn schon nicht wirklich schützend, so aber strukturgebend wirkt; und wer zum majestätischen »Martin-Buber-Blick« gelangt, schaut über die Gräber hinweg auf den rötlich schimmernden Dom, dessen Turmspitzen himmelwärts zeigen wie die Grabsteine selbst.
Mitte des 11. Jahrhunderts kam der Tora-Gelehrte Raschi nach Worms.
Mitte des 11. Jahrhunderts kam Schlomo ben Jizchak, genannt Raschi, der bis heute bedeutende Kommentator von Tora und Talmud, nach Worms. »Wie sehr gehören unsere Lehrer in Mainz, in Worms und in Speyer zu den Gelehrtesten der Gelehrten, zu den Heiligen des Höchsten«, heißt es in einer Lobrede aus dem 13. Jahrhundert. »Von dort geht die Lehre aus für ganz Israel. Seit dem Tage ihrer Gründung richteten sich alle Gemeinden nach ihnen, am Rhein und im ganzen Land Aschkenas.« Seit dem 12. Jahrhundert tauschten sich die Juden der drei Städte darüber hinaus in politisch geprägten Zusammenkünften aus und diskutierten gemeindeübergreifend Fragen der Halacha.
1055, als Raschi zunächst nach Mainz und dann nach Worms zum Studium kam, war er noch blutjung, ein Teenager – zu seinen Lehrern zählte Isaak ben Eleasar ha-Levi. Zehn Jahre später kehrte er in seine Heimat, ins französische Troyes, zurück, wo seine überragende theologische Karriere begann. In Worms ist heute das einstige Tanz- und Hochzeitshaus im Süden des Synagogenviertels nach ihm benannt. Das Raschi-Haus beherbergt ein Museum, das den UNESCO-Antrag 2020 zum Anlass nahm, die Geschichte der SchUM-Gemeinden auch in multimedial aufbereiteter Form zu erzählen – und im Gewölbe, vermutlich dem ehemaligen Weinkeller des Gebäudes, moderne Kunst zu zeigen. Hier liegt der Golem des amerikanischen Bildhauers Joshua Abarbanel, der mit der Buchstabenmystik der Legende spielt.
Der Wormser Machsor und Soundcollagen aus dem jüdischen Viertel, das »Unetane tokef«, ein Urtext der aschkenasischen und vor allem auch der Mainzer Juden, und seine Neuinterpretation durch Leonard Cohen unter dem Eindruck des Jom-Kippur-Kriegs – im Raschi-Haus durchdringen sich mittelalterliche Vergangenheit und Moderne, so wie das SchUM-Projekt überhaupt mit Erfolg versucht, den Anschluss ans Heute zu finden. Zwei Apps informieren über die Gemeinden, sie bieten wertvolle Überblicke und Einordnungen vor Reisebeginn, und sie leiten die Besucher an den Orten selbst durch die Bauwerke und an den Monumenten entlang – so auch zur Synagoge in direkter Nachbarschaft zum Raschi-Haus, deren Vorläuferfragmente bis ins Jahr 1034 weisen.
Die Mikwe in Speyer ist das wohl eindrücklichste Monument der SchUM-Gemeinden.
Als älteste Synagoge Europas beanspruchte sie auch baulich Vorbildfunktion, hier entstand die erste Frauenschul. 1938 legten die Nationalsozialisten Feuer in ihren Mauern. 1957 begann der Wiederaufbau, obwohl es die jüdische Gemeinde von Worms nicht mehr gab.
SCHPIRA Friedliche Koexistenz und erbitterte Feindschaft; Wohlstand, Wissenschaft und religiöse Entfaltung einerseits – Hass und Verfolgung, Pogrome in der Kreuzritterzeit und im Schatten der Pest und im 20. Jahrhundert die Schoa: Ein Besuch der SchUM-Städte ist eine Reise in die wechselvolle Geschichte von Aschkenas. Auch die Synagoge in Speyer wurde im Feuer zerstört, im Stadtbrand von 1689. Eine jüdische Gemeinde gab es zu diesem Zeitpunkt seit rund 130 Jahren schon nicht mehr.
Die archäologische Befundaufnahme des Judenhofs in Speyer begann 1998. Heute betritt man das Gelände von der domseits gelegenen Straße her durch das Museum Schpira, das auf einer relativen kleinen Ausstellungsfläche Grabsteine, Doppelbogenfenster und Fragmente der mittelalterlichen Synagoge zeigt. Deren Überreste erheben sich in Gestalt der erhaltenen Mauern, der angrenzenden Frauenschul und der als Bodendenkmal überlieferten Jeschiwa im gartenähnlich gestalteten Innenhof, der zugleich das wohl eindrücklichste Monument der SchUM-Gemeinden bereithält.
Es ist die in romanischem Stil gehaltene Mikwe, die ein Modell für die kleinere Version in Worms war. Rund elf Meter steigt man auf rauen Treppenstufen bis zum Grundwasser hinab. Es ist ein Gang vom Licht durch die Dunkelheit und wieder zum Licht, ein Vorantasten hinab in die Geschichte der drei jüdischen Gemeinden am Rhein. Deren Strahlkraft wird durch den Titel des Weltkulturerbes noch einmal betont – das ist nicht nur wünschenswert, es schien geboten.
Synagoge und Mikwe in Worms sind aufgrund von Restaurierungsarbeiten derzeit für den normalen Besucherverkehr geschlossen. Unter der Adresse www.schumstaedte.de lassen sich die Apps herunterladen.