Herta Müller

»Das Wort ›Märtyrer‹ verachtet das Leben schlechthin«

Herta Müller Foto: picture alliance/dpa

Nach dem Tod von Hassan Nasrallah in Beirut sagte Ali Chamenei, der religiöse Führer des Iran: »Dieser Segen« sei nach Jahrzehnten des Kampfes sein »rechtmäßiger Lohn«. Das klingt, als würde er dem Tod gratulieren, dass es ihm gelungen ist, das Leben von Nasrallah auszulöschen.

Auch einer der Söhne von Nasrallah sagte, wie froh er sei, dass sein Vater endlich ein Märtyrer ist. Und als die Söhne von Ismail Haniyeh bei einem israelischen Angriff in Gaza starben, freute er sich genauso düster, dass seine Kinder nun Märtyrer sind: »Ich danke Gott für diese Ehre, die er uns mit dem Tod meiner drei Söhne und einiger Enkelkinder erwiesen hat.«

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Diese düstere Art der Freude im Iran, in Gaza und im Libanon lässt mich von innen frieren. Das Wort »Märtyrer« ist abgründig. Es verachtet das Leben schlechthin. Es kennt nur die Todesfreude und erstickt jeden individuellen Wunsch nach persönlichem Glück im Leben. Ein Individuum soll erst gar nicht entstehen. Der Verstand soll sich dem als Religion getarnten Militarismus bedingungslos unterwerfen. Es entsteht durch diese konsequente Unterwerfung mehr als nur blinder Gehorsam, es entsteht eine buchstäblich ausweglose Abhängigkeit, ein Sog des Todeswunsches.

Nach dem Tod von Nasrallah warfen sich Anhänger schreiend auf den Boden und schlugen ihren Kopf gegen die Wand. Es ist Verzweiflung und Glück in einem, eine Hörigkeit, die den Verstand zerreißt. Einfach gesagt: Gehirnwäsche. Vergleichbares Verhalten kannte ich bisher nur aus dem Sowjetimperium nach dem Tod von Stalin.

Der Märtyrerkult des politischen Islam sagt den Leuten, dass sie kein Leben brauchen, nur eine Mission. Dass diese Mission heute, vor allem anderen, die Vernichtung Israels ist. Dafür soll seit Jahrzehnten kontinuierlich getötet werden, bis man selbst stirbt. Nach dem Tod von Yahya Sinwar meinte einer der Hamasführer, 42.000 Tote seien bloß eine »taktische Größe«, kein »Verlust«. Ein wirklicher Verlust seien nur die Kämpfer, weil sie nicht mehr kämpfen können.

Nasrallah sagte schon vor Jahren: »Unser Budget, was wir essen und trinken, unsere Waffen und unsere Raketen, alles kommt von der islamischen Republik.« Alles – er musste es ja wissen und hatte recht: Die materielle und die mentale Abhängigkeit, also auch der Märtyrerkult, kommt vom Iran. Der Märtyrerkult ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern die Verweigerung der Politik.

Der Iran hat es geschafft, diese Verweigerung durch religiöse Aufladung bis hin zur Hysterie zu ersetzen. Im Iran gilt bis heute die Doktrin der »strategischen Geduld«, nach der Israel durch einen Zermürbungskrieg beseitigt werden soll – egal, wie lange das dauert, und egal, wie viele Menschenleben es kostet. Der 7. Oktober 2023 sollte nur die Initialzündung dafür sein. Das heißt, der Iran wird Israel nicht in Ruhe lassen. Er wird immer weiter in den Tod derer investieren, die von ihm abhängig sind. Und weiter leugnen, dass er damit etwas zu tun hat.

Ein Ingenieur aus dem Libanon sagt: »Ich bin gegen jede Partei, die ein religiöses Gesicht hat. Ich akzeptiere die religiöse Besatzung des Denkens nicht. Ich bin frei.«

Diese Sätze sind schön. Sie können atmen und bleiben leider nur persönliches Eigentum. Für uns sind sie selbstverständlich. Sie laut zu sagen, ist im Libanon der Hisbollah riskant. Und im Gaza der Hamas sogar lebensgefährlich. Und hier im Westen sollten wir sie denen sagen, die rote Dreiecke der Hamas an Fassaden schmieren. Wir sollten ihnen sagen, dass sie Freiheit atmen und auf ihr herumtrampeln. Dass sie im Sinne der Islamisten das politische Denken durch Hysterie ersetzen und dem abgründig dunklen Menschenbild des Märtyrerkultes nachlaufen.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025