Sonntag, 15. Oktober 2023
Tel Aviv, Kfar Schmaryahu, Israel
Der Tag beginnt damit, dass ich meiner Freundin Kati via WhatsApp Küsse zum Geburtstag schicke. Sie antwortet umgehend: »Danke Liebste, die hebe ich mir bis morgen auf.«
Heute ist noch gar nicht der 16.? Erst der 15.? Sind tatsächlich erst acht Tage seit dem Horror vergangen? Oder schon?
Tommy Mozes sitzt vor mir auf dem Boden.
Nathalie.
Ben.
Roy.
So heißen seine Kinder.
Ich bitte Tommy um Entschuldigung. Ich sage ihm, dass ich Fragen frage, die man jetzt nicht fragt. Eigentlich nie.
Tommy: »Frag!«
Ich: »Tommy, was ist Deine größte Angst?«
Tommy: »Ich liebe mein Land. So sehr, dass ich willens bin, mein Leben für Israel zu geben. Das Wichtigste in meinem Leben sind meine Kinder. Ich bin willens, ihre Leben zu opfern …«
Es ist kompliziert, dass englische »I am willing« ins Deutsche zu übertragen. Vielleicht beschreibt »Ich bin vorbereitet …« etwas besser, was da vorgeht in Tommy Mozes.
Ben (20) und Roy (18), die Söhne von Tommy, warten im Süden Israels auf ihren Marschbefehl. Keine Reservisten. Soldaten. Sie sind 18 und 20 Jahre alt. Ihr Vater sitzt vor mir auf der Erde und versucht, nicht zu weinen.
Seit acht Tagen rotieren Tommy und seine Frau Carmit.
Carmit ist einer der führenden Köpfe bei den Protesten gegen die Justizreform. Aus ihrer »heilen Welt« wurde ein Stützpunkt größter Solidarität und Zivilcourage. Sie organisieren, kaufen, verpacken und senden Nahrungsmittel, Ausrüstungsgegenstände, alles, was dringlichst gebraucht wird, direkt zu den Einheiten der IDF.
Vor drei Tagen bekam ich von Tommy eine Liste. Ich lese: Babypuder. Das kann nicht sein, denke ich, benutze Google Translate und lese: Babypuder.
Inzwischen weiß ich, dass sich die Soldatinnen und Soldaten die Füße mit dem Talkum einreiben, damit diese während der vielen Stunden in den schweren Schuhen trocken bleiben. Wunde Füße sind sogar in Friedenszeiten Mist …
Ich kaufe alles Babypuder, was der Superpharm (vergleichbar mit Rossmann oder Müller) hergibt.
Meine Freunde und deren Freunde, meine Kollegen und deren Kollegen, spendeten Geld. Auf meinem Kontoauszug stehen hinter Geldeingängen Namen von Menschen, die ich gar nicht kenne. Ich weine vor Rührung über all die Liebe und Solidarität aus Deutschland und kaufe und bringe zu Tommy und weine und kaufe und bringe zu Tommy und again und again.
Ich frage ihn: »Woher nimmst Du die Kraft, mutig zu sein, mutig zu bleiben. Hast Du ein Mantra?«.
Tommy: »Nein. Es gibt kein Mantra. Ich schlafe kaum. Ich esse nicht und verliere Gewicht. Es fällt mir schwer, zu atmen. Ich halte mich »busy« (beschäftigt).«
Tommy schweigt.
Dann sagt er: »Meine Söhne halten ein Gewehr in ihren Händen. Mein Großvater musste meine Mama weggeben, als sie ein Baby war, um sie vor den Nazis zu retten. Er wusste nicht, ob er sie jemals wiedersehen wird. Das war schlimmer.«
Wieder Stille.
Tommy: »Wir Juden in Israel kämpften und rangen miteinander, bis vor einer Woche, großer Probleme wegen. Politik, Religion, Demokratie und die persönliche Gestaltung unserer Leben. Nichts davon ist aktuell wichtig. Wichtig ist jetzt, dass wir - Israelis und Armee - ein für alle mal dafür sorgen, dass niemand in unser Land eindringt und jüdische Babys abschlachtet.«
Stille.