Ein Archiv in Blechkisten und Milchkannen: Unter Leitung des Historikers Emanuel Ringelblum sammelten internierte Wissenschaftler im Warschauer Ghetto heimlich Zeugnisse jüdischen Leidens, Standhaltens und Aufbegehrens. Oyneg Schabbes hieß die Gruppe, die dafür sorgte, dass die Dokumente in lesbarem Zustand der Nachwelt erhalten blieben, als alle Mitarbeiter und Verfasser längst in den Lagern oder im Ghetto selbst ermordet waren. Unter der Bezeichnung »Ringelblum-Archiv« ist die Sammlung von 1.680 Archivposten auf etwa 25.000 Seiten, die im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt wird, zu einem Begriff geworden. Der amerikanische Historiker Samuel D. Kassow hat in seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch Ringelblums Vermächtnis die Entstehungsgeschichte und die Bedeutung dieser Untergrundsammlung in den größeren Zusammenhang der jüdischen Geschichte in Polen gestellt. Entstanden ist ein ganz außerordentlich ergiebiges Buch.
marxismus Kassow verbindet den Lebensweg des 1900 in Ostgalizien geborenen Emanuel Ringelblum mit der Darstellung der Lage der Juden zunächst im Reich der Habsburger und dann in dem nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen polnischen Staat. Er zeichnet die prekäre Situation der Juden inmitten einer antisemitischen Umgebung und widmet den leidenschaftlichen Debatten zwischen den jüdischen Organisationen und Parteien umfangreichen Raum: Zionismus oder Assimilation, religiöse oder soziologische Definition des jüdischen Volkes, jiddische oder hebräische Sprache, bürgerliche oder marxistische Gesellschaftsordnung. Ringelblum gehörte der Linken Poale Zion an, einer kleinen marxistischen Partei, die anfangs eine Politik des gleichzeitigen Hier (in Polen) und Dort (in Palästina) vertrat und dabei mehr auf die Sowjetunion setzte als auf Großbritannien, die Mandatsmacht im Nahen Osten. Im Laufe der Zeit modifizierte die Poale Zion ihre Positionen: Die Religion erkannte sie als konstitutiv für das jüdische Volk an und sprach in ihren offiziellen Verlautbarungen ab Mitte der 1930er-Jahre nicht mehr von Palästina sondern von Eretz Israel.
alltagsgeschichte Der promovierte Historiker Ringelblum hatte vor dem deutschen Einmarsch über die Sozialgeschichte der Juden in Polen geforscht und die Wende von der Behandlung der »Schabbes-Juden« zur Untersuchung der sozialen Wirklichkeit der »Alltags-Juden« vorangetrieben. Sein auch politisch begründetes historiografisches Engagement setzte er im Ghetto mit der Organisation des geheimen Archivs fort. Von den besonderen Bedingungen dieser Arbeit, von den Umständen der Entstehung des Archivs, dem Verstecken der Dokumente und ihrer Wiederentdeckung unter dem Trümmerschutt des Hauses Nowolipki-Straße 68 berichtet Kassow in seinem faktenreichen, bis in die Anmerkungen lesenswerten Buch. Ein Plan des Warschauer Ghettos aus den Jahren 1940 – 1943 veranschaulicht den Ort des Geschehens. Ringelblum schrieb aus Überzeugung und gezielt für sein Publikum in jiddischer Sprache. Zahlreiche jiddische Ausdrücke sind in der deutschen Übersetzung von Karl Heinz Siber erhalten und geben dem Text atmosphärische Dichte. Die umfangreiche Bibliografie besteht leider ausschließlich aus englisch- und polnischsprachigen Titeln. Gutgetan hätten dem Buch auch eine Zeittafel sowie Daten zu Wahlergebnissen, Mitgliederbeständen und so weiter der erwähnten jüdischen Parteien.
Samuel D. Kassow: »Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos«. Deutsch von Karl Heinz Siber. Rowohlt, Reinbek 2010 , 751 S., 39,95 €